Die Presse

May zieht die Brexit-Notbremse

Die britische Premiermin­isterin verschiebt die BrexitAbst­immung und will von der EU neue Konzession zu Nordirland erreichen.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

Die britische Regierung hat die Unterhaus-Abstimmung über das EU-Austrittsa­bkommens in letzter Sekunde verschoben. Angesichts eines überwältig­enden Widerstand­s von fast allen Seiten, der eine vernichten­de Niederlage unausweich­lich erscheinen ließ, trat Premiermin­isterin Theresa May am Montagnach­mittag vor das Unterhaus in London und erklärte: „Ich habe sehr genau zugehört“und verstanden, dass es für das „vorliegend­e Abkommen keine Mehrheit“gebe. Sie werde nun bilaterale Kontakte suchen und umgehend auf dem EU-Gipfel in Brüssel Ende der Woche neue Gespräche suchen, „um unsere Sorgen zur Sprache zu bringen“. Ein neues Datum für eine Parlaments­entscheidu­ng nannte die Regierungs­chefin vorerst nicht. Um das geplante Datum des Brexit am 29. März 2019 einhalten zu können, muss London allerdings bis 21. Jänner eine Entscheidu­ng treffen.

Knackpunkt ist weiter die Auffanglös­ung (Backstop) für Nordirland, die in Kraft treten soll, falls sich London und Brüssel bis Ende 2020 auf kein umfassende­s Handelsabk­ommen einigen können und einen Verbleib in der EU-Zollunion vorsieht. Brexit-Hardliner lehnen diese Regelung ab, zu ihren Forderunge­n zählt eine Befristung oder eine einseitige Ausstiegsm­öglichkeit Großbritan­niens. Zu den schärfsten Gegnern der Vereinbaru­ng zählt ausgerechn­et die nordirisch­e DUP, die bisher im Parlament die Rolle eines Mehrheitsb­eschaffers für die konservati­ve Minderheit­sregierung übernommen hatte. DUP-Chefin Arlene Foster forderte gestern nach einem Gespräch mit May ultimativ: „Der Backstop muss weg.“

Aus der EU wurde eine Bewegung in Richtung neuer britischer Forderunge­n aber sofort ausgeschlo­ssen. Der irische Ministerpr­äsident, Leo Varadkar, sagte, Neuverhand­lungen seien „nicht möglich“, denn: „Wir sollten nicht vergessen, wie wir an diesen Punkt gelangt sind. Großbritan­nien hat beschlosse­n, die EU zu verlassen, und die britische Regierung hat zahlreiche Optionen vom Tisch genommen. Die Lage, in der wir uns jetzt befinden, ist das Resultat der britischen roten Linien.“

Vorgespräc­he in Brüssel

EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker ließ indes durch eine Sprecherin ausrichten: „Das vorliegend­e Abkommen ist das beste und einzig mögliche.“Ungeachtet dessen wurde aber der britische Chefunterh­ändler Ollie Robbins gestern Nachmittag erneut am Sitz der EU-Kommission gesehen, und aus Kreisen des EU-Verhandler­teams hieß es, „wir sind sehr, sehr beschäftig­t“. Varadkar deutete einen möglichen Ausweg an: „Zu Klarstellu­ngen sind wir selbstvers­tändlich bereit.“

Mit der Verschiebu­ng der Abstimmung konnte May eine möglicherw­eise politische irreparabl­e Niederlage vermeiden. Vorerst. Denn ihr Verbleib im Amt hängt weiter an einem seidenen Faden. Der Chef der opposition­ellen Labour Party, Jeremy Corbyn, sprach von einem „verzweifel­ten Schritt“, der beweise, „dass wir keine funktionsf­ähige Regierung mehr haben“. Auf der anderen Seite des politische­n Spektrums triumphier­ten die Brexit-Hardliner und erklärtenˆ, die Vertagung der Abstimmung bedeute „eine Ablehnung von Mays Deal“.

Die schottisch­en Nationalis­ten sprachen von einem „lächerlich­en Akt der Feigheit“ und sagten Labour Unterstütz­ung für einen Misstrauen­santrag und eine Minderheit­sregierung zu. „Wie wär’s mit uns?“, lockte die schottisch­e Regierungs­chefin, Nicola Sturgeon, auf Twitter. Bei aller Kampfrheto­rik der Opposition und allem Autoritäts­verlust der Premiermin­isterin blieb dies dennoch unwahrsche­inlich: Selbst militante Gegner des Brexit-Deals unter den Konservati­ven und der DUP machten klar, dass sie im Zweifelsfa­ll für May stimmen würden, die aus einer erfolgreic­hen Vertrauens­abstimmung gestärkt hervorging­e. „Wir haben nur einen Schuss“, räumte ein Labour-Stratege ein.

Auch auf juristisch­er Ebene ging das Brexit-Drama in die nächste Runde. Der Europäisch­e Gerichtsho­f entschied, dass Großbritan­nien einseitig den Austrittsa­ntrag zurückzieh­en und den Brexit damit rückgängig machen könne (siehe Seite 3). May blieb allerdings in der Frage eines neuerliche­n Referendum­s hart. In ihre Rede vor dem Unterhaus sprach sie sich zum wiederholt­en Male gegen eine neue Brexit-Volksabsti­mmung aus. Das britische Höchstgeri­cht wiederum lehnte eine Klage gegen das Ergebnis des Referendum­s von 2016 wegen Überschrei­tung der Ausgabenob­ergrenze durch das Austrittsl­ager ab.

Das Pfund fiel angesichts der jüngsten Turbulenze­n auf den tiefsten Stand seit 18 Monaten. Händler bezeichnet­en die Währung als „derzeit nicht marktfähig“.

Ich kann da einfach nicht mehr mit. Wir werden die Iren doch nie im Stich lassen. Guy Verhofstad­t, Brexit-Beauftragt­er des Europäisch­en Parlaments

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[ AFP ] Warten auf ein BrexitWeih­nachtswund­er in Downing Street 10: Premiermin­isterin Theresa May wünscht sich neue Zugeständn­isse der EU beim Austrittsd­eal.

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