May zieht die Brexit-Notbremse
Die britische Premierministerin verschiebt die BrexitAbstimmung und will von der EU neue Konzession zu Nordirland erreichen.
Die britische Regierung hat die Unterhaus-Abstimmung über das EU-Austrittsabkommens in letzter Sekunde verschoben. Angesichts eines überwältigenden Widerstands von fast allen Seiten, der eine vernichtende Niederlage unausweichlich erscheinen ließ, trat Premierministerin Theresa May am Montagnachmittag vor das Unterhaus in London und erklärte: „Ich habe sehr genau zugehört“und verstanden, dass es für das „vorliegende Abkommen keine Mehrheit“gebe. Sie werde nun bilaterale Kontakte suchen und umgehend auf dem EU-Gipfel in Brüssel Ende der Woche neue Gespräche suchen, „um unsere Sorgen zur Sprache zu bringen“. Ein neues Datum für eine Parlamentsentscheidung nannte die Regierungschefin vorerst nicht. Um das geplante Datum des Brexit am 29. März 2019 einhalten zu können, muss London allerdings bis 21. Jänner eine Entscheidung treffen.
Knackpunkt ist weiter die Auffanglösung (Backstop) für Nordirland, die in Kraft treten soll, falls sich London und Brüssel bis Ende 2020 auf kein umfassendes Handelsabkommen einigen können und einen Verbleib in der EU-Zollunion vorsieht. Brexit-Hardliner lehnen diese Regelung ab, zu ihren Forderungen zählt eine Befristung oder eine einseitige Ausstiegsmöglichkeit Großbritanniens. Zu den schärfsten Gegnern der Vereinbarung zählt ausgerechnet die nordirische DUP, die bisher im Parlament die Rolle eines Mehrheitsbeschaffers für die konservative Minderheitsregierung übernommen hatte. DUP-Chefin Arlene Foster forderte gestern nach einem Gespräch mit May ultimativ: „Der Backstop muss weg.“
Aus der EU wurde eine Bewegung in Richtung neuer britischer Forderungen aber sofort ausgeschlossen. Der irische Ministerpräsident, Leo Varadkar, sagte, Neuverhandlungen seien „nicht möglich“, denn: „Wir sollten nicht vergessen, wie wir an diesen Punkt gelangt sind. Großbritannien hat beschlossen, die EU zu verlassen, und die britische Regierung hat zahlreiche Optionen vom Tisch genommen. Die Lage, in der wir uns jetzt befinden, ist das Resultat der britischen roten Linien.“
Vorgespräche in Brüssel
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ließ indes durch eine Sprecherin ausrichten: „Das vorliegende Abkommen ist das beste und einzig mögliche.“Ungeachtet dessen wurde aber der britische Chefunterhändler Ollie Robbins gestern Nachmittag erneut am Sitz der EU-Kommission gesehen, und aus Kreisen des EU-Verhandlerteams hieß es, „wir sind sehr, sehr beschäftigt“. Varadkar deutete einen möglichen Ausweg an: „Zu Klarstellungen sind wir selbstverständlich bereit.“
Mit der Verschiebung der Abstimmung konnte May eine möglicherweise politische irreparable Niederlage vermeiden. Vorerst. Denn ihr Verbleib im Amt hängt weiter an einem seidenen Faden. Der Chef der oppositionellen Labour Party, Jeremy Corbyn, sprach von einem „verzweifelten Schritt“, der beweise, „dass wir keine funktionsfähige Regierung mehr haben“. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums triumphierten die Brexit-Hardliner und erklärtenˆ, die Vertagung der Abstimmung bedeute „eine Ablehnung von Mays Deal“.
Die schottischen Nationalisten sprachen von einem „lächerlichen Akt der Feigheit“ und sagten Labour Unterstützung für einen Misstrauensantrag und eine Minderheitsregierung zu. „Wie wär’s mit uns?“, lockte die schottische Regierungschefin, Nicola Sturgeon, auf Twitter. Bei aller Kampfrhetorik der Opposition und allem Autoritätsverlust der Premierministerin blieb dies dennoch unwahrscheinlich: Selbst militante Gegner des Brexit-Deals unter den Konservativen und der DUP machten klar, dass sie im Zweifelsfall für May stimmen würden, die aus einer erfolgreichen Vertrauensabstimmung gestärkt hervorginge. „Wir haben nur einen Schuss“, räumte ein Labour-Stratege ein.
Auch auf juristischer Ebene ging das Brexit-Drama in die nächste Runde. Der Europäische Gerichtshof entschied, dass Großbritannien einseitig den Austrittsantrag zurückziehen und den Brexit damit rückgängig machen könne (siehe Seite 3). May blieb allerdings in der Frage eines neuerlichen Referendums hart. In ihre Rede vor dem Unterhaus sprach sie sich zum wiederholten Male gegen eine neue Brexit-Volksabstimmung aus. Das britische Höchstgericht wiederum lehnte eine Klage gegen das Ergebnis des Referendums von 2016 wegen Überschreitung der Ausgabenobergrenze durch das Austrittslager ab.
Das Pfund fiel angesichts der jüngsten Turbulenzen auf den tiefsten Stand seit 18 Monaten. Händler bezeichneten die Währung als „derzeit nicht marktfähig“.
Ich kann da einfach nicht mehr mit. Wir werden die Iren doch nie im Stich lassen. Guy Verhofstadt, Brexit-Beauftragter des Europäischen Parlaments