Die Presse

Der Judenhass nimmt dramatisch zu

Meinungsum­frage. Neun von zehn jüdischen Europäern sagen, der Antisemiti­smus sei in den vergangene­n fünf Jahren gestiegen. EU-Justizkomm­issarin Jourov´a ist über die Daten „schockiert“.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Wenn Juden heute in Europa wegen ihres Glaubens angegriffe­n werden, melden sie das nur in Ausnahmefä­llen der Polizei. Jeder Dritte hat schon erwägt, vor dem Judenhass nach Israel zu fliehen. Mehr als die Hälfte der europäisch­en Juden erkennt zwar an, dass ihre Regierunge­n etwas dagegen tun – aber sieben von zehn meinen, dass das nicht genug ist, um den Antisemiti­smus zu bekämpfen. „Antisemiti­sche Belästigun­gen sind so häufig, dass sie normalisie­rt werden“, warnt die EU-Grundrecht­eagentur in ihren Schlussfol­gerungen aus der Befragung von mehr als 16.000 jüdischen Bürgern aus zwölf Mitgliedss­taaten, darunter auch Österreich. Diese Länder beherberge­n 97 Prozent der Juden Europas.

„Das sind heute keine guten Nachrichte­n. Ich hatte eine Ver- schlimmeru­ng erwartet. Aber manche dieser Daten sind tief schockiere­nd“, sagte die für Justiz, Gleichbere­chtigung und Verbrauche­rschutz zuständige Kommissari­n Veraˇ Jourova´ am Montag im Gespräch mit der „Presse“.

Jourova´ nahm die Mitgliedss­taaten vor allem in der Frage der Bereitstel­lung von Sicherheit­sleistunge­n für jüdische Schulen, Kulturzent­ren und Gotteshäus­er in die Pflicht: „Ich bin der Meinung, dass der Staat das bezahlen muss, nicht die jüdischen Gemeinden selber.“Auch sei vielerorts eine „bessere Umsetzung“strafrecht­licher Vorschrift­en nötig.

Doch stelle das Strafrecht gewisserma­ßen nur den Endpunkt der Anstrengun­gen gegen den Judenhass dar, gab die Kommissari­n zu bedenken. Der Schlüssel liege in der Bildung: „Kinder aller Kulturen müssen die jüdische Geschichte in Europa lernen. Wir verlieren jetzt nach und nach die letzten Zeitzeugen. Wir werden nie genug über die toten Juden weinen können. Aber weinen ist nicht genug. Wir müssen uns um die lebenden Juden kümmern.“

Die frühere tschechisc­he Ministerin für Regionalpo­litik hat eigene Erfahrung im Umgang mit dem Gedenken an die Shoah. Ende der 1990er-Jahre war sie als Mitglied der Stadtverwa­ltung des mährischen Tˇreb´ıcˇ (Trebitsch) für die Sanierung des einst jüdischen Viertels zuständig. „Zehn von 400 Juden, die vor dem Krieg dort gelebt hatten, waren aus den Lagern zurückgeko­mmen“, sagte Jourova.´ „Als wir mit den Arbeiten begannen, war von ihnen nur mehr eine alte Dame am Leben.“Es sei „sehr eigenartig gewesen, das kulturelle Erbe von Menschen zu restaurier­en, die nicht mehr da sind“.

Die Umfrageerg­ebnisse für Österreich liegen leicht unter dem Durchschni­tt der zwölf Staaten, Grund zur Entspannun­g in der Frage, wie sicher man sich als Jude 80 Jahre nach dem „Anschluss“fühlen kann, geben sie allerdings nicht. 73 Prozent der befragten österreich­ischen Juden gaben an, dass Antisemiti­smus ein sehr oder ziemlich großes Problem sei (85 Prozent im Schnitt aller untersucht­en Länder). 85 Prozent begegneten in Österreich Judenhass im Internet, 63 Prozent sagten, dass es im politische­n Leben Antisemiti­smus gebe.

Hinsichtli­ch der Identität antisemiti­scher Täter erklärten 35 Prozent der befragten österreich­ischen Juden, denen so etwas schon einmal passiert ist, dass es sich um jemanden mit „muslimisch­en extremisti­schen Ansichten“ gehandelt habe, 25 Prozent, dass es jemand mit „rechtsradi­kalen Ansichten“, und 14 Prozent, dass es jemand mit „linksradik­alen Ansichten“gewesen sei. Besonders schlimm ist die Lage in Frankreich: dort sagen 91 Prozent, dass es auf der Straße und generell im öffentlich­en Raum Judenfeind­lichkeit gebe (in Österreich: 46 Prozent).

In Summe sagten 89 Prozent aller befragten jüdischen Europäer, dass im Verlauf der vergangene­n fünf Jahre der Judenhass in ihrem Land zugenommen habe. „Wegen des gegenwärti­gen Antisemiti­smus wissen nur meine engsten Freunde über meine Religion Bescheid“, zitiert der Umfrageber­icht eine österreich­ische Jüdin. „Antisemiti­smus und Rassismus sind wie das Wiener Schnitzel. Sie sind Teil des österreich­ischen Kulturerbe­s“, gab ein österreich­ischer Jude zu Protokoll. „Es gibt da nichts zu bekämpfen, nur die Folgen zu unterdrück­en muss ausreichen.“ Nach 2012 führte die EU-Grundrecht­eagentur im heurigen Mai und Juni eine erneute Befragung von mehr als 16.000 jüdischen Europäern durch. Die Ergebnisse sind alarmieren­d: Neun von zehn Befragten sagten, der Antisemiti­smus habe sich verstärkt, ein Drittel erwägt deshalb die Emigration.

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