Die Presse

Das Ende des Reformpräs­identen

Frankreich. Unter dem Druck der Gelbwesten-Proteste wich Präsident Macron von seinem liberalen Reformkurs ab und verteilte Milliarden­geschenke. Nach Italien hat die EU nun ein weiteres Defizitpro­blem.

- Von unserer Mitarbeite­rin KARLA FRÖHLICH

Der französisc­he Präsident, Emmanuel Macron, hat mit einer Fernsehred­e an die Nation auf die anhaltende­n Proteste der Gelbwesten reagiert. Rund 23 Millionen Franzosen verfolgten seine kurze Ansprache über verschiede­ne TV-Sender. Eine Rekordzahl. In dreizehn Minuten kündigte Emmanuel Macron einige konkrete Neuerungen und seine Dialogbere­itschaft an. Er überrascht­e mit einer Erhöhung des Mindestloh­ns um 100 Euro netto. Diese Erhöhung soll in Form einer unversteue­rten Prämie an Mindestloh­nempfänger gezahlt werden, eine Maßnahme, die Macron eigentlich schrittwei­se bis 2021 einführen wollte, nun aber „beschleuni­gt“. Außerdem verkündete er die Streichung einer Sozialabga­be für Pensionist­en, die weniger als 2000 Euro monatlich beziehen, und Steuererle­ichterunge­n. Doch welche politische­n Folgen wird Macrons Schwenk haben?

1 Werden die Gelbwesten-Proteste nach Macrons Rede ein Ende haben?

Es ist wahrschein­lich, dass sich mit diesen Zugeständn­issen ein großer Teil der Gelbwesten erst einmal zufriedeng­ibt und die Proteste einstellt. Ganz aufhören wird die Bewegung jedoch in Kürze nicht. Es gibt noch immer viele Unzufriede­ne, die lautstark Emmanuel Macrons Rücktritt fordern. Ein Teil der Gelbwesten-Bewegung will nicht aufhören, auf die Straße zu gehen, bis die Pensionen an die steigenden Lebenskost­en sowie den Wertverlus­t des Euros angepasst werden und die sogenannte Reichenste­uer wiedereing­eführt wird.

2 Wie kam die Ansprache des Präsidente­n bei den Franzosen an?

Unterschie­dlich. Eine unmittelba­r nach der Ansprache durchgefüh­rte telefonisc­he Umfrage mit knapp tausend Franzosen für das Nachrichte­nportal France Info und die Zeitung „Le Figaro“vermittelt ein durchwachs­enes Bild. Demnach habe es Emmanuel Macron diesmal geschafft, sein ramponiert­es Image in der Bevölkerun­g etwas zu verbessern. Die überwiegen­de Mehrheit der Befragten sei der Meinung, der Präsident habe „zufriedens­tellende Maßnahmen“angekündig­t und sich „klar“und „der Situation angemessen“ausgedrück­t.

Trotzdem gaben immer noch 54 Prozent an, für weitere Proteste zu sein. Im Vergleich zu früheren Umfragewer­ten des Instituts ist die Zustimmung­srate aber um zwölf Prozentpun­kte gesunken. Ein Teil der Demonstran­ten sieht eine wirkliche Dialogbere­itschaft, eine offene Tür. Ein anderer Teil weist den Präsidente­n weiterhin zurück und nennt seine Maßnahmen nur „Brotkru- men“. Auf einigen Facebook-Seiten wird erneut zu Protestakt­ionen aufgerufen.

3 Wie teuer sind Macrons Konzession­en? Kann sich Frankreich das leisten?

Die Kosten belaufen sich laut dem Staatssekr­etär im Ministeriu­m für öffentlich­e Ausgaben, Olivier Dussopt, auf acht bis zehn Milliarden Euro. Die Ausgaben sollen allein vom Staat getragen werden, was große Zweifel bei der politische­n Opposition hervorruft, die eine Umlagerung auf den Steuerzahl­er befürchtet. Die linken Parteien stellen aus diesem Grund einen Misstrauen­santrag. Emmanuel Macrons Regierung hat bisher noch nicht genau erklärt, woher das Geld kommen soll.

4 Wird Frankreich ein EU-Problemfal­l und die Drei-Prozent-Defizit-Grenze überschrei­ten?

Im vergangene­n Jahr blieb Frankreich zum ersten Mal seit zehn Jahren mit 2,6 Prozent unter der von der EU vorgeschri­ebenen Drei-Prozent-Grenze. Mit den von Macron angekündig­ten Maßnahmen dürfte es sehr schwer werden, die Maastricht-Kriterien einzuhalte­n. Die EU-Kommission will die finanziell­en Auswirkung­en des Milliarden­Pakts erst im Frühjahr bewerten. Macrons Schwenk bereitet Brüssel allerdings schon jetzt Kopfzerbre­chen. Denn Italien fühlt sich nun in seinem Budgetstre­it mit der EU bestätigt. „Falls die Defizitreg­eln für Italien gelten, erwarte ich auch, dass sie für Macron gültig sind“, erklärte der italienisc­he Vizepremie­r Luigi Di Maio von der linkspopul­istischen Fünf-Sterne-Bewegung.

5 Hat sich Macron von seiner Reformagen­da verabschie­det?

Macron ist an einem Scheideweg angekommen, er hat die Ziele seiner Reformagen­da vorerst hintangest­ellt. Opposition, Gewerkscha­ften und viele Bürger haben aber noch kein Vertrauen in eine „neue Linie“des Präsidente­n, auch wenn er erste Schritte eingeleite­t hat. In Europa hat Macron jedenfalls bereits seinen Nimbus des kompromiss­losen liberalen Reformers verloren.

 ?? [ Reuters ] ?? „Sei jung und schweige“: Inspiriert von den Gelbwesten, gehen auch die Schüler und Studenten auf die Barrikaden. Sie lehnen Macrons Bildungsre­form ab.
[ Reuters ] „Sei jung und schweige“: Inspiriert von den Gelbwesten, gehen auch die Schüler und Studenten auf die Barrikaden. Sie lehnen Macrons Bildungsre­form ab.

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