„Es fällt leicht, über die Politik zu schimpfen“
Hochschule. Gerd Folkers, Chef des Schweizer Wissenschaftsrats, über die Schwierigkeit evidenzbasierter Politik, die Rolle von Geld und Rankings – und darüber, warum es klug ist, neben den Physiker einen Philosophen in den Hörsaal zu stellen.
Die Presse: Wenn Sie aus Schweizer Perspektive auf die österreichischen Hochschulen blicken: Gibt es da irgendetwas, worauf Sie neidisch sind? Gerd Folkers: Was ich neulich besucht habe, war das IST. Und an der Uni Wien sind ganz, ganz große Gedanken entstanden – von der Physik über die Philosophie bis zur Literatur, darüber muss man nicht diskutieren. Da schaue ich dann schon neidisch drauf.
Und wobei sind Sie froh, dass Sie wieder nach Hause an die ETH Zürich können? Ich will die Institutionen, wenn ich über sie urteile, tatsächlich kennen. Es ist vielfach in der Schweiz nicht anders als in Österreich – und umgekehrt. Weil der Konkurrenzkampf, die politische Vernetzung, die Abhängigkeiten der Wissenschaft eher globaler Natur sind.
Die finanzielle Kluft zwischen österreichischen Unis und Hochschulen wie der ETH ist aber enorm. Wie wichtig ist das Geld? Es ist wichtig, sehr viel Geld zu haben. Aber man braucht auch einen Kopf, der damit umzugehen weiß. Und man muss Freiheit in der Verwendung haben. Das Beste sind unabhängige Mittel, über die man frei verfügen kann. Davon hat die ETH relativ viele. Und diese sind die Basis für Durchbrüche.
Die ETH Zürich ist in Rankings stets top. Muss man es da nach vorne schaffen – oder sind diese Ranglisten eigentlich irrelevant? Ja und nein. Wenn eine Hochschule den Geldgebern eine Freude machen will, sollte sie besser irgendetwas vorweisen können, das besagt, dass sie gut ist. Ob Rankings das jetzt wirklich erfassen, ist eine andere Frage. Denn sie spiegeln ja nur eine quantitativ erfassbare Seite von Wissenschaft wider. Das ist ja immerhin etwas. Die wird aber auch noch dadurch geschwächt, dass die Rankings von privaten Firmen erstellt werden, die mehr Umsatz machen wollen. Und um das Interesse zu wecken, braucht man viele Änderungen auf den ersten Plätzen. Denn wenn alles gleich bleibt, ist das furchtbar langweilig. Daher werden auch die Spielregeln für diese Ranglisten immer ein bisschen geändert.
Welche Forschungsbereiche darf man in den kommenden Jahren auf keinen Fall liegen lassen? Aus einer Wissenschaftsperspektive ist diese Frage nicht zulässig. Denn die Wissenschaft ist ja genau der Schritt in das Dunkel, wo man noch nicht weiß, was passiert, wo man noch nicht einmal die Vokabeln kennt, die man dafür verwen- den wird. Aus einer EngineeringPerspektive sind es die Life Sciences und die Digitalisierung. Und das ist es eigentlich auch schon.
Wenn man besonders auf diese Bereiche setzt: Geht das auf Kosten der Geisteswissenschaften? Das glaube ich nicht. Die Frage ist aber auch, wie man sie versteht. Wenn man Geisteswissenschaften über Geisteswissenschaften betreibt, dann hat man ein Problem. Wenn man Geisteswissenschaften über Medizin betreibt, dann nicht. Und mir wäre es recht, wenn es in Naturwissenschaften und Technik humanistische Infrastruktur gäbe.
Was heißt das? Dass es automatisch Diskussionsplattformen und Gesprächspartner gibt für das, was da gerade passiert. Das gilt besonders auch für die Studierenden. Das darf man aber nicht so verstehen, dass die Studierenden jetzt halt noch einen Ethikschein machen, das ist Unsinn. Es geht darum, dass das integral in ihrem Gebiet passiert.
Und wie kann man sich das konkret vorstellen? Wir haben uns an der ETH ziemliche Sorgen gemacht – und der Präsident hat mich gebeten, eine Critical-Thinking-Initiative zu starten. Die Studierenden sollen lernen, immer das, woran sie gerade fest glauben, zu hinterfragen. Deshalb gibt es etwa eine Grundlagenvorlesung in Teilchenphysik, die immer von einem Philosophen begleitet wird, wenn besonders entscheidende Experimente behandelt werden. Und die Physiker sind über diese Art des Teamteachings sogar außerordentlich glücklich.
Zu einem anderen Thema: In Österreich sollen die drei Räte für Wissenschaft und Forschung zu einem fusioniert werden. Läuft man da Gefahr, Stimmen für die Wissenschaft zu verlieren? Ich halte das für klug. Ich denke, ein einziges Gremium wäre schlagkräftiger. Wichtig ist, dass es einen gewissen Automatismus gibt: Dass die Regierung also bei bestimmten Fragen den Rat zumindest befragen muss. Bei uns ist das so.
Wie oft folgt die Schweizer Regierung Ihren Empfehlungen – und wie oft lässt sie sie links liegen? Ach, es fällt immer leicht, ein bisschen über die Politik zu schimpfen. Das sollte man nicht tun. Ich würde von keinem Politiker erwarten, dass er oder sie zu 100 Prozent evidenzbasiert entscheiden kann. So klar sind die Fakten, die man als Basis hat, meist nicht. Und dann hat die Politik abzuwägen.
Unser Bildungsminister musste unlängst viel Kritik einstecken, weil er sagte, dass nicht alle politischen Entscheidungen wissenschaftlich fundiert seien. So ist es. Das kann ich zu 100 Prozent unterschreiben. Ich habe in der Wissenschaft so viele scheinbar evidente Tatsachen den Bach hinuntergehen sehen, dass ich mit Evidenzen extrem vorsichtig bin.
(65) ist seit drei Jahren Präsident des Schweizer Wissenschaftsrats. An der ETH Zürich ist der gebürtige Deutsche Professor für Wissenschaftsforschung mit Schwerpunkt Chemie und Pharmazie. In Wien diskutierte er am Montag auf Einladung der ÖFG über Beratungsgremien für Wissenschaftspolitik. Der Anlass: Die Regierung plant, drei bestehende Räte bis 2020 zu einem Beratungsgremium zu fusionieren.