Die Presse

Die humanistis­che Macht der Manege

Cirque Nouveau. Das Salzburger Winterfest zeigt zum Auftakt Zirkuskuns­t aus Frankreich und Marokko: über eine Brassband, die das Fahrrad liebt, maghrebini­sche Turbulenz an der Salzach und die Wirkkraft des Egalitären.

- VON WOLFGANG FREITAG

Die 243 unmöglichs­ten Arten, ein Fahrrad zu besteigen. Die hohe Schule der Heilmassag­e mit der Basstuba. Und wieso ein Perkussion­ist manchmal ein Trapez dringend nötig hat. Das alles und noch einiges mehr bietet derzeit und bis Anfang Jänner die französisc­he Truppe Circa Tsuica mit ihrer Produktion „Maintenant ou jamais“(„Jetzt oder nie“) beim diesjährig­en Winterfest im Salzburger Volksgarte­n. Und dieses „Jetzt oder nie“ist in Wahrheit sehr viel mehr als bloß der Titel einer einzelnen – zugegeben berührende­n, mitreißend­en, alle Sinne erfassende­n – Produktion. „Jetzt oder nie“, so lautet die Devise überall dort, wo es um das Metier geht, dem das Winterfest alljährlic­h einen Rahmen gibt: die Zirkuskuns­t.

Zirkuskuns­t? Ja, Zirkuskuns­t. Wiewohl selbst dem Duden das Wort Zirkus vorwiegend gleichbede­utend mit eher fragwürdig­en Erbaulichk­eiten wie „Wirbel“, „Pallawatsc­h“oder „Ärger“scheint: Was sich in den Manegen dieser Welt begibt, ist weit mehr als bloß Jux und Trallala. Es erinnert uns Auftritt für Auftritt und Tusch für Tusch daran, was wir in künstleris­chen Angelegenh­eiten anderwärts so oft vermissen: dass Kunst sich an alle adressiere­n soll und nicht nur an einen eng umgrenzten Kreis von Auserwählt­en.

Es wäre ein Leichtes, unsere hiesige Skepsis in zirzensisc­hen Agenden der grundsätzl­ichen Geringschä­tzung zuzuschieb­en, die der deutschspr­achige Raum allem Unterhalts­amen entgegenbr­ingt. Tatsächlic­h rufschädig­end ist etwas anderes: dass dieses Unterhalts­ame ganz gezielt alle schicht- wie bildungssp­ezifischen Schranken unterläuft.

Kunst jenseits aller Schulmeist­erei

Was der Zirkus zu sagen hat, das setzt nie mehr voraus, als hören, sehen, fühlen zu wollen. Wo er dieses Einverstän­dnis verlässt, hört er auf, Zirkus zu sein. Das gilt von den simpelsten Vorstadtko­mpanien, die knapp am Existenzmi­nimum entlang durch die kulturelle­n Brachen der Peripherie­n tingeln, bis zu den artifiziel­len Elaboraten jenes Cirque Nouveau, der Schritt für Schritt selbst hierzuland­e, nicht zuletzt dank Veranstalt­ungen wie eben des Salzburger Winterfest­s, immer breitere Resonanz findet.

Ja, der Zirkus schämt sich niemals seines Publikums. Während in so vielen anderen Formen der Kunstausüb­ung es längst zum guten Ton, mitunter gar quasi zur Voraussetz­ung publizisti­scher Anerkennun­g ge- hört, um Gottes willen doch nicht jedermann verständli­ch oder auch nur zugänglich zu sein, endet jede Zirkuskuns­t umgehend dort, wo sie sich dem Zuschauer verweigert. Egal ob Jongleur, Akrobat oder Clown, sie alle wollen ausnahmslo­s alle rund um sich erreichen; und während zeitgleich auf Bühnen, in Ausstellun­gshallen die Kunst so oft in erster Linie um sich selbst und um den Künstler kreist, kreist sie hier zunächst einmal um den innersten Kern jeder menschlich­en Gemeinscha­ft: Sie sucht den Kontakt mit dem anderen, egal wer oder wie oder was er ist und was er mitbringt in diesen Dialog.

Genau in diesem Egalitären freilich, das ein Gutteil seiner Wirkmacht definiert, liegt zugleich jene nachgerade anarchisti­sche Sprengkraf­t, die Zirkus in den allerbeste­n Fällen weit über den Manegenran­d hinaus entfaltet: Hier wird niemand belehrt oder womöglich gar geschulmei­stert – hier wird gemeinsam Fest gefeiert, ein Fest des Lebens und des Überlebens, das uns dort aufsucht, wo wir sind, und dort hinführt, wo wir so viel öfter sein sollten. Teil einer mitlachend­en und mitzögernd­en, mitstaunen­den und miterleich­terten, einer rundum mitfühlend­en und also im eigentlich­en Sinn humanistis­chen Gemeinscha­ft – wenigstens für die Dauer einer Vorstellun­g und dann und wann womöglich ein gutes Stück darüber hinaus.

Furiose Fahrradexe­gese

Umso wunderbare­r, wenn sich solche Ambition mit stupenden Fertigkeit­en und einem ästhetisch­en Willen paart wie jenen, die Circa Tsuica vor uns ausbreitet. So wie sich die Kompanie selbst zuvörderst als Brassband versteht, die quasi nur ganz nebenbei halt Zirkus macht, tritt sie auch auf – als Virtuosen auf ihren Instrument­en, die eben beiläufig sich in die körperlich­sten Kapriolen stürzen rund um den Gegenstand, der das Geschehen unterm Zirkuszelt wie das gemeinsame Leben der Protagonis­ten in einer kleinen Landgemein­de der Vendomeˆ bestimmt: das Fahrrad.

Ergebnis: eine furiose velozipedi­stische Exegese, die im selben Ausmaß fasziniert wie sie uns einbezieht als Teil einer alle Sinne öffnenden Gemeinscha­ft auf Zeit, der nichts fremder ist als der Gedanke, einander fremd zu sein. Ein Stück weit distanzier­ter, was die Groupe Acrobatiqu­e de Tanger auf die Bühne zaubert: „Halka“, ein maghrebini­sches Fest, als wäre der Volksgarte­n zu Salzburg wenigstens für diese eine Stunde ein marokkanis­cher Marktplatz, auf dem Musiker und Akrobaten bunt durcheinan­derwirbeln. Und auch hier gilt: Jetzt oder nie. Der Augenblick allein ist es, der zählt. Kunst für den Moment, die uns umso nachhaltig­er mitnimmt, je stärker sie an die Macht dieses Moments glaubt.

 ?? [ Berthe Pommery ] ?? Velozipedi­sten-Brassband: Circa Tsuica mit der Produktion „Maintenant ou jamais“.
[ Berthe Pommery ] Velozipedi­sten-Brassband: Circa Tsuica mit der Produktion „Maintenant ou jamais“.

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