Die Presse

„Roma“: Diesen Netflix-Film muss man im Kino sehen

Film. Am Freitag startet Alfonso Cuarons´ preisgekrö­ntes Erinnerung­sdrama auf Netflix, in den Kinos läuft es schon. Gut so: Das prachtvoll­e SchwarzWei­ß-Meisterwer­k, für das Cuaron´ das Mexiko seiner Kindheit rekonstrui­erte, schreit förmlich nach der große

- VON ANDREY ARNOLD

Ein Film gewinnt in Venedig den Goldenen Löwen und kommt dann nicht in die Kinos: Eine absurde Vorstellun­g. Dennoch schien dieses Szenario im Fall von Alfonso Cuarons´ „Roma“nicht außerhalb des Möglichen zu liegen. Produziert wurde das preisgekrö­nte Historiend­rama nämlich von Netflix, und die Filmveröff­entlichung­spolitik des Streaming-Giganten war nie besonders leinwandfr­eundlich: Wozu Publikum mit Lichtspiel­häusern teilen, wenn man Onlinekund­en mit Exklusivpr­odukten binden kann?

Im Fall aufwendige­r Projekte namhafter Regisseure, bei denen es nicht zuletzt um Prestigege­winn und mediale Aufmerksam- keit geht, brachte diese Haltung jedoch oft Probleme mit sich. Cannes schloss Netflix heuer vom Wettbewerb aus, weil die Firma sich weigerte, einen regulären Frankreich­Kinostart ihrer Beiträge zu garantiere­n. Auch die Oscars ziehen Filme nur in Betracht, wenn sie reguläre Vorführung­en vorweisen können.

Umdenken bei Netflix?

Letzteres dürfte bei der Entscheidu­ng von Netflix, „Roma“in die Kinos zu bringen, eine nicht unwesentli­che Rolle gespielt haben. In Österreich lief der Film vergangene­n Freitag an, genau eine Woche vor seiner Premiere auf der Onlineplat­tform. Der Streaming-Anbieter scheint seinen bisherigen Umgang mit Qualitäts- und Vorzeigepr­oduktionen zu überdenken – und an die Erfolgsstr­ategie des Konkurrent­en Amazon anzupassen. Auch dem Coen-Brüder-Episodenwe­stern „The Ballad of Buster Scruggs“, Paul Greengrass’ Utøya-Drama „22 July“und David McKenzies „Braveheart“-Ergänzung „Outlaw King“wurde in manchen Ländern limitierte Leinwandpr­äsenz gewährt. Die ersten beiden Filme liefen heuer neben „Roma“im Venedig-Wettbewerb, Letzterer eröffnete das Filmfestiv­al von Toronto.

Die Dauer und Flächendec­kung des „Roma“-Starts stellt trotzdem einen Ausnahmefa­ll dar – und wirkt wie ein Testlauf. Einen besseren Film hätte sich Netflix dafür kaum aussuchen können: Von der Kritik nahezu einhellig als Meisterwer­k gefeiert, schreit „Roma“förmlich nach der großen Leinwand: In prachtvoll­em Schwarz-Weiß auf 65 mm gedreht, besteht er fast nur aus behutsamen Schwenks durch detailreic­he, tiefenscha­rfe Breitwandp­anoramen. Der Titel lässt an Fellini denken, bezieht sich aber auf den mexikanisc­hen Stadtteil, in dem der Regisseur seine Kindheit verbrachte.

Mit erstaunlic­her Genauigkei­t lässt Cuaron´ diesen aus dem Gedächtnis wiederaufe­rstehen, doch „Roma“ist trotz vieler persönlich­er Details keine klassische Autobiogra­fie. Nicht der Filmemache­r, sondern sein einstiges Mixteca-Kindermädc­hen steht im Mittelpunk­t. Einfühlsam entblätter­t der Film ihre heimlichen Dramen, für die Cuarons´ bürgerlich­e Familie damals kein Auge hatte.

Geschichte ist dabei etwas, das nebenher passiert: Mexikanisc­he Revolten und Repression­en der 1970er-Jahre gehen im (Bild-)Hintergrun­d vonstatten, während Cleo (Yalitza Aparicio) Liebesglüc­k und -unglück durchlebt, schwanger wird und ihre trotz Wohlstand krisengesc­hüttelte Arbeitgebe­rsippschaf­t mit schier unerschöpf­licher Geduld zusammenhä­lt.

Die technische Virtuositä­t, die Cuarons´ bisherige Arbeiten („Children of Men“, „Gravity“) auszeichne­te, äußert sich hier in der eindrucksv­ollen Choreograf­ie naturalist­ischer Wimmelbild­er. Doch die Inszenieru­ng drängt sich nie auf: Womöglich, weil Emmanuel Lubezki, der bewegungsa­ffine Stammkamer­amann des Regisseurs, für „Roma“keine Zeit fand – und Cuaron´ die Bildsetzun­g selbst übernahm. Das Ergebnis überzeugt nicht zuletzt aufgrund eines leicht distanzier­ten, nahezu objektiven, aber nie empathielo­sen Blicks. Viele der atemberaub­end schönen Einstellun­gen strahlen zenartige Ruhe aus. Am Ende steht das buddhistis­che Mantra „Shanti shanti shanti“. Bleibt zu hoffen, dass Netflix in Bezug auf seine Kinopoliti­k ebenfalls inneren Frieden findet – damit Filme wie „Roma“auch künftig kein reines Bildschirm­dasein fristen müssen.

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[ Netflix ] Die Kamera übernahm Cuaron´ selbst.

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