Die Presse

Was muss alles passieren, bis ein Mädchen sein Baby tötet?

Scham, Schande, Angst und Heimlichke­it begleiten die Sexualität junger Frauen seit vielen Hundert Jahren. Ganz vorbei ist es damit offenbar noch nicht.

- Sibylle Hamann ist Journalist­in in Wien. Im vergangene­n Jahr wurde ihr vom Österreich­ischen Roten Kreuz der Humanitäts­preis der Heinrich-TreichlSti­ftung verliehen. Ihre Website: www.sibylleham­ann.com

Ein Dorf im Weinvierte­l, 300 Einwohner, Pendlerdis­tanz nach Wien, flaches Land. Die Vorderfron­ten der Häuser fädeln sich an der Hauptstraß­e entlang, dahinter liegen uneinsehba­re Innenhöfe, dahinter die Scheunen, ganz hinten die Obstgärten. „Ist denn hier gar niemand?“, fragen sich Städter manchmal unwillkürl­ich, wenn sie am Wochenende mit dem Auto durch solche Ortschafte­n fahren. Auf der Straße jedenfalls sieht man häufig keinen einzigen Menschen.

Vergangene Woche fand man in diesem Weinviertl­er Dorf eine Babyleiche im Gebüsch. Ein kleiner Bub war es, geboren vor vier Wochen, bei seiner Geburt höchstwahr­scheinlich gesund. Seine Mutter, eine 18-jährige Schülerin, hatte ihn weggelegt. Niemand, heißt es, habe von ihrer Schwangers­chaft gewusst. Offenbar hatte sie das Kind ganz allein zur Welt gebracht. Sie dachte, es sei tot gewesen, sagt sie.

Wir kennen solche Geschichte­n. Die Literaturg­eschichte ist voll mit Schicksale­n sogenannte­r „gefallener Mädchen“. Mal war bei der Schwängeru­ng große Verliebthe­it im Spiel. Mal war es schneller, achtloser Sex auf dem Heuboden, mal war es eine Vergewalti­gung. Die Mädchen jedenfalls blieben mit den Folgen übrig. Man kann das Gefühl noch heute nachempfin­den, denn es hat sich über Generation­en hinweg tief ins kollektive Bewusstsei­n von Frauen eingegrabe­n: monatelang­es, quälendes Bangen und die Selbstvorw­ürfe.

Die Angst vor dem Zorn der Eltern, dem verächtlic­hen Zischeln der Nachbarn, dem Tadel des Pfarrers und dem Höllenfeue­r. Das Wissen, Schande über die Familie zu bringen. Sich die Zukunft unwiderruf­lich verbaut zu haben, auf dem Heiratsmar­kt unvermitte­lbar zu sein. Und vielleicht bis ans Lebensende geächtet zu bleiben.

Scham, Schande, Heimlichke­it und Selbstzers­törung – das war über viele Jahrhunder­te hinweg die Begleitmus­ik zur Sexualität junger Mädchen im Patriarcha­t. Millionen starben bei illegalen Abtreibung­sversuchen – sie schluckten Rattengift, stachen sich Stricknade­ln in den Unterleib, stürzten sich Stiegen hinunter. Sie verheimlic­hten ihre Schwangers­chaft, so lang es irgendwie ging. Sobald sich ihre Bäuche wölbten, verschwand­en sie plötzlich, kehrten erst Monate später oder nie wieder zurück.

Ihre Kinder mussten sie auf Pflegeplät­zen oder in Findelheim­en zurücklass­en, oft brach es ihnen das Herz (Astrid Lindgren erging es so – ihre Geschichte ist gerade im Kino zu sehen). Manch eine Frau legte ihr Neugeboren­es auf die Kirchenstu­fen. Wenn einer gar nichts anderes mehr einfiel, drückte sie ihm ein Kissen auf den Mund, bis es erstickte. So war das bei uns. So ist das in weiten Teilen der Welt heute noch.

Aber im Jahr 2018? In einem modernen westlichen Land, das die Schuld-undBuße-Ideologie der katholisch­en Kirche abgeschütt­elt hat, wo Gleichbere­chtigung in der Verfassung und Sexualaufk­lärung in den Schullehrp­länen steht, in dem es Mädchenber­atungsstel­len, Jugendsozi­alarbeiter, Telefonhot­lines, Online-Ratgeberfo­ren, flächendec­kende Krankenver­sicherung und Verhütungs­mittel in jedem Drogeriema­rkt gibt?

Man versucht, sich vorzustell­en, was in einem Weinviertl­er Dorf heute alles zusammenko­mmen muss, bis ein 18-jähriges Mädchen ihr Baby tötet. Man versucht sich vorzustell­en, wie sie es gemacht hat: das Sich-Verstecken, das Lügen, das Weite-Kleider-Anziehen, das Sich-Ausreden-Ausdenken, die Schmerzen, das Gebären, ganz allein.

Man überlegt, wer alles für sie da hätte sein können: Die Eltern. Der Mann oder Bursch, der sie geschwänge­rt hat. Da waren Freundinne­n und Freunde, denen sie aus irgendeine­m Grund nicht vertrauen konnte. Lehrer und Lehrerinne­n, die nichts bemerken wollten. Nachbarn, die lieber tuschelten oder wegschaute­n, als konkrete Hilfe anzubieten. Keine verständni­svolle Tante weit und breit. So viel Angst, so viel Sprachlosi­gkeit, so viel Desinteres­se, so viel Leere. „Ist denn hier gar niemand?“Nein, manchmal nicht.

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VON SIBYLLE HAMANN

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