Die Presse

Die „Gelbwesten“finden Nachahmer

Proteste. Regierunge­n der Region beschuldig­en die eigenen Gegner, auch hinter den Krawallen in Frankreich zu stehen.

- Von unserem Mitarbeite­r THOMAS SEIBERT

Istanbul. Nach dem Vorbild der französisc­hen „Gelbwesten“ist es im Nahen Osten zu ersten Protesten gekommen. In der südirakisc­hen Stadt Basra zogen mehrere Hundert Demonstran­ten in den vergangene­n Tagen die signalfarb­enen Schutzwest­en an, als sie gegen die schlechten Lebensbedi­ngungen in der Region auf die Straße gingen. Die Gegend von Basra ist zwar reich an Erdöl, doch klagen die Bewohner über verschmutz­tes Trinkwasse­r, schlechte Stromverso­rgung, hohe Arbeitslos­igkeit und Korruption.

Nicht nur wegen der „Gelbwesten“Nachahmer in der Nahost-Region sind die Demonstrat­ionen manchen Regierunge­n unheimlich. Vertreter der dortigen Regime beschuldig­en die jeweils eigenen Gegner, auch für die Barrikaden und Straßensch­lachten in Frankreich verantwort­lich zu sein.

So behaupten regierungs­treue ägyptische Medien, die islamistis­che Muslimbrud­erschaft stehe hinter der Bewegung der französisc­hen „Gelbwesten“. Mit einem ähnlichen Vorwurf wird ein Regierungs­berater in den Vereinigte­n Arabischen Emiraten (VAE) zitiert, die ebenfalls zu den Gegnern der Bruderscha­ft zählen. Die Regierung in Kairo und ihre Verbündete­n am Golf sehen die Muslimbrüd­er als Bedrohung für ihre Herrschaft und betrachten die Bewegung als extremisti­sche Terrororga­nisation.

„Soros setzt die Welt in Brand“

Die Protestbew­egung in Frankreich ist für diese Kreise eine Gelegenhei­t, auf die angebliche Gefahr durch die Muslimbrüd­er hinzuweise­n. Der Westen habe vor sieben Jahren die Aufstände des Arabischen Frühlings unterstütz­t und die Muslimbrüd­er zur Gewalt animiert, twitterte der Journalist Zahack Tanvir in Saudiarabi­en: „Jetzt erlebt der Westen die Proteste am eigenen Leib.“

In der Türkei, die zu den Unterstütz­ern der Muslimbrud­erschaft zählt, werden in regierungs­treuen Kommentare­n dagegen ganz andere Parallelen gezogen. Die Unruhen in Frankreich erinnerten an diverse Aufstände in Osteuropa, die von dem Finanzier George Soros organisier­t worden seien, titelte die Zeitung „Türkiye“: „Soros setzt die Welt in Brand.“

Die Zeitung folgt damit Präsident Recep Tayyip Erdogan.˘ Dieser hat Soros beschuldig­t, er habe bei den regierungs­feindliche­n Gezi-Unruhen in der Türkei im Jahr 2013 die Fäden gezogen. Bei den Unruhen in Frankreich seien auch Anhänger der kurdischen Terrororga­nisation PKK und der linksextre­men türkischen Gruppe DHKP-C am Werk gewesen, sagte Erdogan.˘

Angesichts der Bilder aus Frankreich bekräftigt die türkische Regierung zudem ihren Vorwurf, Europa messe bei Einsätzen der Sicherheit­skräfte mit zweierlei Maß. Die türkische Polizei sei bei den Gezi-Protesten und anderswo wegen übertriebe­ner Gewaltanwe­ndung kritisiert worden, doch trotz eines ähnlich entschiede­nen Vorgehens der französisc­hen Polizei gebe es solche Kommentare diesmal nicht, lautet das Argument: „Das nennen wir Heuchelei“, sagte Außenminis­ter Mevlüt C¸avus¸og˘lu.

Schadenfre­ude und Kapitalism­uskritik

Aus manchen Kommentare­n spricht zudem Schadenfre­ude über einen als arrogant empfundene­n Westen. Wenn die Bilder der Gewalt aus Paris und anderen französisc­hen Städten im Nahen Osten entstanden wären, würden Europa und die USA jetzt die Protestbew­egung unterstütz­en und von einem Diktator sprechen, der zurücktret­en müsse, hieß es in zahlreiche­n Kommentare­n auf Twitter. Im Iran sehen manche Regimeanhä­nger den Aufstand der „Gelbwesten“in Frankreich als Bewegung gegen den westlichen Kapitalism­us, dem Teheran bereits seit der Revolution von 1979 die Stirn biete.

Wer wie Frankreich den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen: Der ehemalige iranische Hardliner-Präsident Mahmoud Ahmadineja­d belehrte den französisc­hen Staatschef, Emmanuel Macron, auf Twitter, eine Regierung müsse auf die Forderunge­n der Bürger eingehen. Niemand könne etwas gegen die Macht des Volkes ausrichten, schrieb Ahmadineja­d, der nach seinem umstritten­en Wahlsieg im Jahr 2009 die Proteste der Opposition mit Gewalt niederschl­agen ließ.

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