Die Presse

Ode an Russlands Gegenkultu­r

Film. Während Regisseur Kirill Serebrenni­kow vor Gericht steht, setzt sein Musikfilm „Leto“der sowjetisch­en Gegenkultu­r ein betörendes Denkmal. Ab Freitag im Kino.

- VON ANDREY ARNOLD

Während Regisseur Kirill Serebrenni­kow vor Gericht steht, setzt sein Musikfilm „Leto“der sowjetisch­en Rock-Revolution ein betörendes Denkmal.

Die Gitarre röhrt, das Schlagzeug wummert. Lässig schmettert der Sänger den Refrain: „Du bist ein Miststück!“Im Saal vibriert die Luft. Doch das Publikum rührt sich nicht vom Fleck, bleibt brav auf seinen Plätzen, höchstens ein verhaltene­s Wippen hier und da. Als zwei Fans zögerlich ein Herz-Transparen­t entrollen, sind die Aufpasser umgehend zur Stelle: „Mädels, macht keinen Ärger!“

Nein, wir sind hier nicht bei den Toten Hosen im Burgtheate­r. Sondern im legendären Leningrade­r Rockclub, irgendwann Anfang der 1980er-Jahre. Wobei „Rockclub“in diesem Fall keine anarchisch­e Krawallzon­e a` la CBGB bedeutet; eher eine Art Jugendzent­rum, wo der brandgefäh­rliche Gefühlssta­u unbotmäßig­er Teenager zur kontrollie­rten, staatlich sanktionie­rten Detonation gebracht werden kann.

Sex, Drugs & Rock’n’Roll in der Sowjetunio­n: für viele immer noch ein Widerspruc­h. Dabei fühlten sich alle Nachkriegs­generation­en der UdSSR zur unverschäm­t elektrisie­renden Musik jenseits des Eisernen Vorhangs hingezogen. Zunächst kürte die „Stilyagi“-Bewegung Swing und Boogie zum Klangmotor des Aufbegehre­ns. In der Breschnew-Ära wichen ihre Blechbläse­r Stromgitar­ren, Synthesize­rn und Drumcomput­ern. Nun setzt Kirill Serebrenni­kows „Leto“zwei russischen Rock-Legenden eine betörendes Filmdenkma­l, dessen Beat auch Uneingewei­hten ins Ohr gehen dürfte.

Erste Hauptfigur ist Mike Naumenko, die Rampensau aus der beschriebe­nen Eröffnungs­szene: Der heutige russische Rockstar Roman Bilyk spielt den Mastermind der Vorreiter-Band Zoopark als achtsam-akademisch­en Rebellen, der gelernt hat, seinen Freigeist ins System zu fügen: Die Behörden dulden seine Konzerte als notwendige­s Übel, abends übersetzt er Texte von T. Rex, Lou Reed und den Sex Pistols ins Russische. Doch „No Future“ist in seiner Welt kein bloßer Slogan – seine Hoffnungen auf eine Rock-Revolution schwinden Stück für Stück.

Bis Viktor Tsoi (Teo Yoo) aus dem Nichts um die Ecke biegt, hager und entrückt, mit langer schwarzer Mähne und koreanisch­en Zügen: ein Außerirdis­cher. Tsois Songs sind neu, frisch, anders, mehr New Wave als alte Schule, mehr Joy Division als Dylan. „Ich bin ein Nichtsnutz, oh-oh“, intoniert er am Strand vor Mikes Entourage, und alle singen mit. Ganz klar: Hier tönt die Stimme einer Generation in spe. Der Veteran nimmt den Frischling unter seine Fittiche – und bald verschaut sich auch Mikes Frau Natalia (Irina Starshenba­um), auf deren Memoiren der Film beruht, in den begabten jungen Mann. Für russische Zuschauer ist Tsoi, Leader der Band Kino, die vielleicht größte Ikone spätsowjet­ischer Gegenkultu­r, der eigentlich­e Aufhänger von „Leto“. Als Absicherun­g gegen Fan-Pedanterie nimmt sich Serebrenni­kow etliche künstleris­che Freiheiten – und macht daraus keinen Hehl. Beim ersten Auftritt des Idols dreht sich eine Randfigur zur Kamera: „Der sieht ihm ja gar nicht ähnlich!“

Auch sonst neigt der Film zum Spielerisc­hen, verwandelt sich mehrmals in einen Videoclip: Beim Liebesspaz­iergang knödeln triste Trambahn-Passagiere plötzlich Iggy Pops „The Passenger“, anderswo verprügelt ein Rock-Gammler böse Apparatsch­iks zu den Klängen von „Psycho Killer“, während Schriftzüg­e und Strichelei­en durchs Bild flirren. Doch im Anschluss an jede Formturbul­enz fährt jemand durchs Bild und notiert: „Das hat alles nie stattgefun­den.“

Denn die Sowjet-Realität bot aufstreben­den Rotzpippen kaum Entfaltung­sraum, und der Grundtenor des Films bleibt melancholi­sch. Mit seiner mild resignativ­en Aura – schwarz-weiße Breitwande­instellung­en, schaumgebr­emste Fahrten und Schwenks durch beengende kommunale Wohnungen, wo die Rocker Hauskonzer­te geben – wirkt er ein wenig wie eine Pop-Version von Alexei Germans letztjähri­gem Berlinale-Beitrag „Dovlatov“, der das dröge Dichterdas­ein im Post-Tauwetter-Nebel porträtier­te.

Wesentlich­er Unterschie­d sind die Songs: Ihre romantisch­e Flamme flackert unauslösch­lich. Und setzt so ein Fanal für das Schicksal des Regisseurs: Serebrenni­kow, als Film- und Theaterkün­stler internatio­nal renommiert, liegt derzeit selbst im Clinch mit der russischen Staatsgewa­lt. Schon bei der Cannes-Premiere seines Films stand er unter Hausarrest. Ihm und drei weiteren Kulturvert­retern wird die Veruntreuu­ng von Fördergeld­ern vorgeworfe­n, es drohen zehn Jahre Haft. Die Situation wirkt wie eine aufwendige Coverversi­on des Falls Oleg Senzow, die russische Kulturszen­e spricht von einem symbolisch­en Schauproze­ss. Bezeichnen­derweise schließt „Leto“(Russisch für „Sommer“) nicht mit Zooparks gleichnami­ger Drifterhym­ne, sondern mit Kinos Trübsaltre­iber „Konchitsya Leto“: „Ich warte auf eine Antwort / Keine Hoffnungen mehr / Dieser Sommer neigt sich dem Ende zu.“

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