Brexit löst Regierungskrise aus
Großbritannien. Premierministerin Theresa May musste sich einem Vertrauensvotum in ihrer eigenen Fraktion stellen.
London. Der Brexit-Prozess droht in völliges Chaos abzurutschen. Die britische Premierministerin, Theresa May, musste sich Mittwochabend einer kurzfristigen Vertrauensabstimmung in ihrer konservativen Parlamentsfraktion stellen. Sofort nach der Herausforderung durch Tory-Rebellen nahm May den Kampf an: „Ich werde alles dafür geben, meine Aufgabe zu Ende zu führen“, erklärte die Premierministerin in der Londoner Downing Street. Ein Wechsel an der Spitze würde einen „Widerruf“des britischen EU-Austrittsantrags nach sich ziehen.
Wie bei einem – peinlich gescheiterten – Putschversuch Mitte November lag das Momentum zunächst bei den Gegnern der Premierministerin: Man könne May „nicht mehr trauen“, erklärte der frühere Landwirtschaftsminister Owen Paterson. „Sie muss weg“, forderte Brexit-Hardliner Jacob ReesMogg. Und wie immer durfte auch das Beschwören des Zweiten Weltkriegs nicht fehlen: „Wir haben im Mai 1940 unseren Premier ausgetauscht“, schrieb der Abgeordnete Bernard Jenkin. „Was sein muss, muss sein.“
Bezüglich Durchhaltewillen kann allerdings keiner der 315 Tory-Abgeordneten der Premierministerin das Wasser reichen. Im Laufe des Tages gelang es ihr sichtbar, ihre Truppen hinter sich zu scharen. Stunden vor der für 19 Uhr (MEZ) angesetzten Abstimmung zählte der Sender Sky News bereits 158 öffentliche Unterstützungserklärungen für May, denen lediglich 28 offene Rücktrittsaufforderungen gegenüberstanden. May war auch erfolgreich, ihr Kabinett zusammenzuhalten: Sowohl der Brexit-Gegner Schatzkanzler Philip Hammond als auch der Brexit-Befürworter Umweltminister Michael Gove sprachen sich für sie aus.
Die magische Zahl für einen erfolgreichen Sturz von May lag bei 158 Stimmen. Unter politischen Beobachtern wurde davon ausgegangen, dass sie bei mehr als 100 Gegenstimmen politisch zu sehr geschwächt wäre, um zu bleiben. „Im Amt, aber nicht an der Macht“, spottet die oppositionelle Labour Party seit Wochen – eine Kritik, die sich nach der Notbremse um die Brexit-Abstimmung zu Wochenbeginn massiv verschärft hat. In allen Fraktionen sahen sich Abgeordnete über die offene Desavouierung des Parlaments durch die Regierung empört. Denn May wollte das Unterhaus zuerst nicht in die Brexit-Entscheidung einbinden. Als sie es doch noch musste, erlaubte sie den Abgeordneten nicht, den Zeitpunkt für die Abstimmung über den Austrittsvertrag selbst festzulegen.
Labour riskiert kein Vorpreschen
Viel Grund zu Hohn und Spott hatte LabourChef Jeremy Corbyn in der Fragestunde des Unterhauses gestern aber nicht. „Die Zeit des Zauderns und Zögerns ist vorbei“, sagte er, auf das Votum über May vermied er jedoch einzugehen. Zu Mitternacht hatte er eine Aufforderung der schottischen Nationalisten zu einem gemeinsamen Misstrau- ensantrag gegen die Regierung verstreichen lassen. Die proeuropäische Tory-Abgeordnete Anna Soubry spottete: „Es scheint, dass die einzige Partei, die noch die Premierministerin unterstützt, die Labour Party ist.“Soubry wollte übrigens für May stimmen.
Sie, wie auch May und ihre Vertrauten, betonte zudem, dass ein Wechsel an der Regierungsspitze den ohnehin turbulenten Brexit-Prozess vollends ins Chaos stürzen würde. „Wir erwarten weiterhin, dass die Premierministerin am Donnerstag in Brüssel sein wird“, erklärte ihr Büro. Was sie allerdings in den Kontakten mit den EU-Partnern nach London heimbringen könnte, mit dem sie im Unterhaus eine Mehrheit für ihren Deal gewinnen kann, stand weiter in den Sternen. Vor demselben Dilemma stünde freilich auch jeder Nachfolger. Die radikalen Brexiteers, wie etwa der Abgeordnete John Redwood, die von einem No-Deal-Brexit träumen, dominieren zwar die Lautstärke im Unterhaus, eine Mehrheit haben auch sie nicht.
Abschied auf Raten?
Wie es mit dem Brexit weitergeht, wusste daher vorerst niemand. May sprach von „guten Fortschritten“in ihren Gesprächen mit anderen EU-Regierungschefs, räumte aber ein, dass „mehr Bewegung nötig“sei. Was sie persönlich plant, deutete sie hingegen bereits an. Nicht unbeachtet blieb Mays Aussage, dass sie „ihre Aufgabe zu Ende bringen“wolle. Will sie nach Abschluss des Brexit also sowieso gehen? Ihr Sprecher ergänzte: „In der heutigen Abstimmung geht es nicht darum, wer die Partei in die nächste Wahl führt, sondern ob es Sinn hat, zum gegenwärtigen Stand der Brexit-Verhandlungen die Führung auszutauschen.“