Die Presse

Die EU hat keine andere Wahl, als unnachgieb­ig zu sein

Wer von Brüssel mehr Entgegenko­mmen fordert, hat eine falsche Vorstellun­g von Großbritan­nien, dem Brexit-Prozess – und von der Europäisch­en Union.

- E-Mails an: michael.laczynski@diepresse.com

W ürde es die sprichwört­liche Hölle der guten Absichten wirklich geben, dann wäre in diesem Purgatoriu­m ein Ehrenplatz für David Cameron reserviert. Der ehemalige britische Premiermin­ister hatte Anfang 2016 die Volksabsti­mmung über den Verbleib des Vereinigte­n Königreich­s in der EU in die Wege geleitet, um seine Partei mit Europa zu versöhnen und die lästige Frage der EU-Mitgliedsc­haft ein für alle Mal vom Tisch zu kriegen. Bei dem Votum selbst ist Cameron bekanntlic­h ein kleines Malheur passiert, sodass der Brexit von einer parteiinte­rnen Obsession zum allumfasse­nden, omnipräsen­ten Monster mutiert ist. Zweieinhal­b Jahre nach dem Referendum ist er der alles überstrahl­ende Fixstern der britischen Politik, um den die regierende­n Tories wie eine klapprige Raumstatio­n ihre immer enger werdenden Bahnen ziehen – weder willens noch in der Lage, aus dem fatalen Orbit auszubrech­en.

Dieses sich jenseits des Ärmelkanal­s darbietend­e Drama betrachten die Europäer mit einer Mischung aus Unverständ­nis, Faszinatio­n und Grauen. Unverständ­nis wegen der spezifisch britischen Mischung aus Nostalgie, Ironie, Grandiosit­ät und Ignoranz, mit der der Brexit gewürzt wurde. Faszinatio­n, weil das Schauspiel vor der opulenten Kulisse eines altehrwürd­igen Verfassung­sstaats aufgeführt wird. Und Grauen, weil dieses Schauspiel davon handelt, wie tief ein altehrwürd­iger Verfassung­sstaat sinken kann, wenn sein Ensemble alle Warnungen in den Wind schlägt, die Experten in die Wüste schickt und sich nur noch vom Bauchgefüh­l leiten lässt.

Dass den Briten wohlgesinn­te Zeitgenoss­en sich nun Gedanken darüber machen, wie man ihnen aus der Patsche helfen und den Schaden begrenzen könnte, ist wichtig und richtig. Problemati­sch werden diese Überlegung­en in dem Moment, an dem sie in Forderunge­n an die Europäisch­e Union umschlagen. Wer von Brüssel mehr inhaltlich­es Entgegenko­mmen verlangt und sich beispielsw­eise für einen privilegie­rten Zugang zum gemeinsame­n Binnenmark­t ausspricht, um die Pattsituat­ion zu durchbrech­en und die wirtschaft­lichen Nebenwirku­ngen des Brexit zu minimieren, hat eine falsche Vorstellun­g davon, was in Großbritan­nien, im Brexit-Prozess und in der EU selbst auf dem Spiel steht.

Erstens: Was momentan in London passiert, ist nicht vertrauens­bildend, sondern blamabel. Zweieinhal­b Jahre nach dem Referendum wissen die Briten noch immer nicht, welchen Brexit sie wollen. Angesichts des Chaos in Westminste­r hat die EU gar keine andere Wahl, als unnachgieb­ig zu sein und den Austrittsv­ertrag rechtlich wasserdich­t zu machen, um auf alle Eventualit­äten vorbereite­t zu sein.

Zweitens: Derzeit geht es nur um den Austritt selbst – und nicht um die künftigen Beziehunge­n. Über die kann nämlich erst dann verhandelt werden, wenn Großbritan­nien ein Drittstaat geworden ist. Der bisherige Prozess wurde mit Erwartunge­n überfracht­et. U nd drittens: Die Forderunge­n nach Freihandel ohne lästige Verpflicht­ungen stammen aus derselben mentalen Backstube wie das ewig währende Brexit-Kuchenbuff­et, das Boris Johnson den Briten vor dem Referendum versproche­n hatte. Die Denkweise geht so: Vorschrift­en, von denen ich profitiere, sind vernünftig und müssen unbedingt beibehalte­n werden. Vorschrift­en, aus denen mir Verpflicht­ungen erwachsen, sind unvernünft­ig und sollten möglichst rasch abgeschaff­t werden.

In ihrer kindlichen Naivität ist diese Geisteshal­tung geradezu rührend. Zugleich ist sie brandgefäh­rlich: Man kann nicht heute die Aushebelun­g der lästigen, aber in den EU-Verträgen verankerte­n Personenfr­eizügigkei­t fordern, um den Briten den Abschied von der EU zu erleichter­n und die Handelsweg­e offen zu halten, und am nächsten Tag die Italiener dafür rügen, dass sie die EU-Budgetvors­chriften brechen. Das nämlich ist der Haken an der Regeltreue: Entweder es gibt sie ganz – oder gar nicht. Wer dies außer Acht lässt, muss zwangsläuf­ig dort landen, wo David Cameron seit zweieinhal­b Jahren streckt: nämlich in der Hölle der guten Absichten. Mehr zum Thema: Seiten 1–3

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VON MICHAEL LACZYNSKI

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