Körperliche Gesten als stiller Protest
Wie kleine Bewegungen durch das Zusammenspiel von Politik, (sozialen) Medien und Technik Symbolkraft erhalten.
Knien während der Hymne oder Fäuste zeigen bei der Siegerehrung: Wie kleine Bewegungen eine Symbolkraft erhalten.
Gesenkte Köpfe und in die Luft gestreckte geballte Fäuste – mit diesen Gesten protestierten die beiden US-amerikanischen Sprinter Tommie Smith und John Carlos 1968 gegen die Ungleichbehandlung von Schwarzen. Sie standen dabei auf einem olympischen Siegespodest in Mexiko-Stadt. Das Bild ihres stillen Protests fand seinen Weg auf eine Vielzahl von Zeitungstitelseiten.
Die politische Geste – die Faust wurde als Referenz auf die revolutionäre Black-Panther-Widerstandsbewegung gelesen – während einer apolitischen Veranstaltung hatte für die beiden schwerwiegende Konsequenzen. Sie wurden erst vom Publikum ausgebuht und dann auf Druck des damaligen IOC-Präsidenten aus der Mannschaft entfernt. In der Sportszene waren Smith und Carlos jahrelang mehrheitlich geächtet.
Das Beispiel zeigt, wie viel eine einzelne körperliche Bewegung, die symbolisch aufgeladen ist, auslösen kann. Einmal in den medialen Verwertungskreislauf eingespeist, werden aufsehenerregende Gesten zitiert, übersetzt und abgewandelt. Sie werden ins Fernsehen und in Zeitungen gehievt, manche schaffen es sogar ins Museum, wieder andere werden von der Werbung vereinnahmt. Heute mehr denn je.
Dieser Entwicklung nimmt sich ein Projekt an der Hochschule Braunschweig in Kooperation mit der Universität für angewandte Kunst in Wien an. Bereits seit eineinhalb Jahren untersucht ein achtköpfiges Team aus Wissenschaft und Kunst Gesten unterschiedlicher Protestkulturen. „Diese haben einen neuen Stellenwert bekommen“, so Florian Bettel. Er verweist auf ihre ökonomische und popkulturelle Verwertung: Ihre Kommerzialisierung ist mittlerweile an der Tagesordnung.
Der Wiener Kulturwissenschaftler ist gemeinsam mit der Braunschweiger Medienwissenschaftlerin Irina Kaldrack für den wissenschaftlichen Part des von der Volkswagen-Stiftung finanzierten Projekts verantwortlich. Sie analysieren Gesten aus einer kulturhistorischen Perspektive, etwa wie sich ihre Bedeutung durch die Verwertung in Kunst oder Werbung verschiebt. Vergangene Woche stellte die Forschungsgruppe bei einem Symposium im Berliner Kunstquartier Bethanien die Ergebnisse ihrer Arbeit vor. Parallel dazu zeigen die beteiligten Künstlerinnen und Künstler Werke, die Gesten in ihrer medialen Repräsentation reflektieren und Machtstrukturen sichtbar machen.
„Wir interessieren uns dafür, warum manche Gesten so hohe Wogen schlagen“, sagt Bettel. Dies sei in Verbindung mit den neuen Verwertungslogiken von Protestbewegungen zu sehen. Der Forscher spricht dabei von einer sogenannten Kommodifizierung: „Gesten sind warenfähig geworden.“
Verlassen wir Smith, Carlos und die Olympischen Spiele 1968 und spulen 50 Jahre zu einem ähnlichen und doch ganz anderen Fall vor: Seit diesem Herbst ist der USamerikanische Football-Spieler Colin Kaepernick das neue Werbegesicht des Sportartikelherstellers Nike. „Glaube an etwas, auch wenn es bedeutet, alles zu opfern“, lautet der Slogan zur Kampagne. Er verweist auf die Sportkarriere des Quarterbacks, die seit einer Protestaktion brach liegt, und adaptiert so Kaepernicks Geschichte, um die eigene Markenbotschaft zu transportieren. Wie Smith und Carlos hatte dieser eine Sportveranstaltung als Plattform genutzt, um auf Rassismus aufmerksam zu machen – ebenfalls mit einer simplen Geste: Er war beim Abspielen der Nationalhymne am Rande eines Spiels nicht wie üblich aufgestanden, sondern kniete sich nieder. Unzählige Spieler folgten Kaepernicks Beispiel, indem auch sie während der Hymne in die Knie gingen oder die Faust in die Höhe streckten. Die Gegner dieses politischen Aktivismus, allen voran Präsident Donald Trump, sahen und sehen in Kaepernick einen „Nestbeschmutzer“. Einen Verein sucht der Footballer jedenfalls seither vergeblich. Daran konnte auch der Vertrag mit Nike nichts ändern.
Schon der Philosoph Walter Benjamin fragte in seinem Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“(1935) angesichts des erstarkenden Faschismus nach den Gefahren einer Ästhetisierung von Politik. Das Team um Bettel interessiert sich auch für den umgekehrten Fall – für die Politisierung von Ästhetik. Als Beispiel dafür nennt er den Auftritt der Sängerin Beyonce´ bei der Halbzeitshow des Super Bowls 2016, dem Finale der USamerikanischen Football-Profiliga. Die Performance des Popstars war gespickt mit politischen Aussagen. Das betraf nicht nur die antirassistischen und feministischen Textzeilen des gewählten Songs „Formation“, sondern auch die Gesten der Tänzerinnen im Black-Panther-Look. Diese hatten ihre eigene Botschaft, die als Teil einer großen Unterhaltungsshow weder still noch subtil war: Sie reckten die Fäuste gen Himmel und bildeten durch ihre Aufstellung ein X – eine Referenz auf den Bürgerrechtler Malcolm X.
„Im Zeitalter der Ökonomie der Aufmerksamkeit wird es für Protestbewegungen zunehmend wichtiger, clevere Methoden zu entwickeln, um im medialen Raum sichtbar zu werden“, erklärt Bettel. Der Kreativität sind dabei keine Grenzen gesetzt, wie aktuell das Anziehen gelber Warnwesten in Frankreich zeigt.