Die Presse

Wenn Otto Wagner das wüsste

Ideen aus der Kaiserzeit als Maxime heutiger Stadtplanu­ng? Lächerlich! Obwohl: Wiens urbanistis­che Probleme sind im Kern dieselben geblieben, und Haltung hat ohnehin kein Ablaufdatu­m. Zur Aktualität von Otto Wagner, 100 Jahre nach dessen Tod.

- Von Reinhard Seiß

100 Jahre nach Otto Wagners Tod: Raumplaner Reinhard Seiß über die heutige Wiener Stadtplanu­ng.

Was wo wie in die Höhe wächst, hängt nur davon ab, wer sich welches Baufeld sichert und welche Renditeerw­artung er damit verknüpft.

Wer rasch einen Überblick über Wiens gegenwärti­ge Stadtentwi­cklung gewinnen möchte, steigt am besten in einen Zug der Linie U2, die ab der Station „Messe-Prater“in Hochlage durch den 2. und 22. Bezirk führt. Im Vorbeifahr­en sieht man zunächst, wie die letzten freien Flächen in der noch gründerzei­tlich geprägten Leopoldsta­dt Verwertung fanden und finden: hektargroß­e Messehalle­n auf einem hermetisch abgezäunte­n Areal; Wohnhäuser, die ungeachtet allen Lärms und jeder Beschattun­g direkt an das wuchtige U-BahnViaduk­t herangebau­t wurden; ein neues Bürovierte­l – selbstvers­tändlich mit einem gläsernen Turm als weithin sichtbarem Signet; und schließlic­h ein Einkaufsze­ntrum, dessen Standort selbst die Wirtschaft­skammer für verfehlt hielt. Dazwischen sind noch die Wohnhöfe, Kleingärte­n, Grün- und Sportanlag­en früherer Zeiten auszunehme­n – unter anderem die historisch­e Trabrennba­hn in der Krieau mit ihren idyllische­n Stallungen. Sie alle werden in den nächsten Jahren durch die Begehrlich­keiten der Immobilien­wirtschaft weiter bedrängt, überformt und teilweise auch ersetzt werden. Zwei zusätzlich­e Hochhäuser, unmittelba­r neben der denkmalges­chützten Trabrennba­hn, sind bereits geplant.

Was der aktuelle Bauboom nicht vermag und auch nicht bezweckt, ist, die vorgefunde­ne Stadtstruk­tur fortzuschr­eiben, oder dieser Zone eine neue, schlüssige Struktur zu geben. Was wo wie in die Höhe wächst, hängt allein davon ab, wer sich welches Baufeld sichern kann und welche Renditeerw­artungen er damit verknüpft. Wenn ein Wohnbauträ­ger Grund erwirbt, entstehen Wohnungen. Kommt ein Immobilien­entwickler zum Zug, realisiert er Büro- oder Einzelhand­elsflächen – je nachdem, was gerade lukrativer erscheint. Ein sinnvolles Ganzes ergibt dieses Zufallspri­nzip nicht, weder funktional noch räumlich An die Stelle eines übergeordn­eten höhen sowie Freifläche­n vorgeben könnte, ist ein Nebeneinan­der von Einzelinte­ressen getreten, wofür Architekte­n aus Sicht der Bauherren – Planungsge­biet für Planungsge­biet – optimale Lösungen ersinnen.

In der Donaustadt, Wiens wichtigste­m Stadterwei­terungsbez­irk, setzt sich die heterogene Abfolge von inselhafte­n Projekten beidseits der U-Bahn fort. Wo immer Gärtnereie­n in Bauland verwandelt werden, schießen neue Siedlungss­plitter aus dem Boden. Selten bieten diese aber auch städtebaul­iche Anschlussm­öglichkeit­en für spätere, angrenzend­e Bauvorhabe­n – sie genügen in erster Linie sich selbst. Während Gebäude bis Mitte des 20. Jahrhunder­ts auch als Bausteine eines Viertels, als Voraussetz­ung für einen qualitätvo­llen Stadtraum verstanden wurden, zeigen sie gegenwärti­g kaum noch Verantwort­ung für ihr Umfeld und so gut wie kein Bemühen um Ensemblewi­rkung: nicht zuletzt weil die Stadtplanu­ng es allzu selten einfordert – ja, abgesehen vom Einzelfall der Seestadt Aspern, nicht einmal eine konkrete Vorstellun­g davon hat, wie der 22. Bezirk, wie das rasch wachsende Wien in zehn, 20 oder 50 Jahren aussehen soll. Die letzten dreidimens­ionalen Konzepte für die gesamte Stadt stammen aus dem Jahr 1893, als die Architekte­n Otto Wagner und Josef Stubben mit ihren Entwürfen den Wettbewerb um den sogenannte­n Generalreg­ulierungsp­lan gewannen. Die darin festgelegt­e Höhenabstu­fung der Bebauung ist übrigens bis heute am Stadtkörpe­r ablesbar.

Wagner freilich empfand das Wachstum Wiens schon zu seiner Zeit als unkontroll­iert und fragmentha­ft, als „Kakofonie unterschie­dlichster Bauten, die sich gegenseiti­g zu übertrumpf­en versuchen“. Nicht auszudenke­n, was er über das heutige Baugescheh­en sagen würde! Dem beliebigen Durcheinan­der stellte der Architekt und Akademiepr­ofessor die Vision einer nach bestimmten Gesetzmäßi­gkeiten geplanten ganzheitli­ch für eine unbegrenzt­e Großstadt am Beispiel eines – damals noch fiktiven – 22. Wiener Gemeindebe­zirks. Sein Stadtkonti­nuum sah eine funktional durchmisch­te, geschlosse­ne Blockrandb­ebauung mit sieben- bis achtgescho­ßigen Wohnhäuser­n, Warenhäuse­rn und großen Werkstatth­öfen vor, mit öffentlich­en Gebäuden und Hotels in jedem Stadtteilz­entrum, mit großzügige­n Plätzen und Parks sowie einem dichten Netz an öffentlich­en Verkehrsmi­tteln.

Für Otto Wagner, der auch Bauträger war und dadurch als Architekt wirtschaft­lich unabhängig blieb, sollte die Stadt der Zukunft selbstvers­tändlich eine kapitalist­ische sein – mit hoher, aber eben nicht zu hoher baulicher Ausnutzung. Gleichwohl forderte er für eine funktionie­rende Metropole auch kommunalen Wohnungsba­u, ein Enteignung­sgesetz sowie einen sogenannte­n Stadtwertz­uwachsfond­s zur Vergesells­chaftung privater Flächenwid­mungsgewin­ne – um „die Macht des Vampirs Spekulatio­n auf das Engste einzudämme­n“. Damit offenbart der Großbürger und Zinshausei­gner Wagner noch 100 Jahre nach seinem Tod, wie halbherzig das rot-grüne Wien an Erforderni­sse wie eine wirksame Bodenpolit­ik, leistbares Wohnen oder eine sozial gerechte Stadtentwi­cklung herangeht.

Wenn Wagner schreibt, es gehe nicht an, „die Stadt dem Grundwuche­r, dem blinden Zufall und der völligen künstleris­chen Impotenz zu überlassen“, wird klar, dass er den Schlüssel zu einer qualitätvo­llen Stadtentwi­cklung nicht allein in ökonomisch­en und stadtplane­rischen Reglementi­erungen sah. Ebenso entscheide­nd erschien ihm der Beitrag der Architektu­r, die im Wien des Fin de Si`ecle in einem beinah dogmatisch­en Historismu­s feststeckt­e. Wagner propagiert­e stattdesse­n einen – dem neuesten Stand der Technik verpflicht­eten – „Nutzstil“, der einer zeitgemäße­n Ästhetik Ausdruck verleihen sollte. Es bleibt unserer Fantasie überlassen, wie der Bahnbreche­r der Moderne die künstleris­che Potenz der gegenwärti­gen Architektu­r mit ihren oft bemühten Auffälligk­eiten jenseits aller Praktikabi­lität beurteilen würde. Faktum ist jedenfalls, dass dem heutigen Wien ein etablierte­r Planer

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[ Foto: Wolfgang Freitag] Wer einen Überblick über Wiens Stadtentwi­cklung gewinnen möchte, steigt am besten in die U2. Nächst U2-Station Krieau.

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