Afrika, Europa und Migration: Ein neuer Marshallplan ist überfällig
Die Neuentdeckung Afrikas ist dringend geboten. Die EU hat den Kontinent lang vernachlässigt. Der Migrationsdruck zwingt zur Auseinandersetzung.
A frika – der Hoffnungskontinent, der Zukunftskontinent, ja, der „Schicksalskontinent“, wie es Gerd Müller, der deutsche Entwicklungsminister, formuliert hat. An enthusiasmierten Zuschreibungen und luftigen Prognosen für die Entwicklung Afrikas fehlt es nicht. Nur wenig davon hat sich allerdings materialisiert. Zu lang war Afrika der „vergessene Kontinent“, der durch Hunger, Krieg und Katastrophen in die Schlagzeilen geriet. Das große Potenzial blieb unberücksichtigt. Auf kleinere Fortschritte folgten schwere Rückschläge. Wenige Vorzeigeländer stehen zahllosen autokratischen Regimes gegenüber, die von notorischen Geißeln der sogenannten Drittweltstaaten geplagt werden: Korruption, Nepotismus, Despotie.
170 Jahre nach den Erkundungsmissionen von Abenteurern, Forschungsreisenden und Missionaren vom Schlage eines David Livingstone in die Terra incognita, angetrieben von der Verheißung ungeheurer Bodenschätze, unternimmt der Westen nun neuerlich einen Anlauf, abseits der klassischen Entwicklungshilfe die Förderung des Kontinents zu forcieren. Geboren aus der Not der Migrationskrise und dem Druck einer Zuwanderungswelle aus Afrika sowie einer demografischen Explosion eines Kontinents mit der prognostizierten Vervierfachung der Bevölkerung bis zum Ende des 21. Jahrhunderts, ist die Neuentdeckung dringend geboten. Allen Sonntagsreden zum Trotz hat insbesondere Europa den Kontinent geradezu sträflich vernachlässigt, und in dieses Vakuum stieß China mit Macht und Milliarden.
Eine europäische Initiative, wie sie der österreichische EU-Ratsvorsitz in der kommenden Woche mit dem EU-AfrikaForum lanciert, ist überfällig. Österreichs Bundeskanzler verschaffte sich bei einem Trip kürzlich ein Bild von der Lage in Äthiopien und Ruanda, Staaten mit Modellcharakter. In Addis Abeba gelang es Abiy Ahmed, dem neuen, jungen Premier, im Rekordtempo das Land zu transformieren. Frieden mit dem Erzfeind Eritrea, Aussöhnung mit der Opposition und dem Mehrheitsvolk der Oromo, Geschlechterparität in den Spitzenpositionen: Dafür gebührt Abiy, dem Mann des Jahres, jeder Preis der Welt. Unübersehbar sind indes Strukturprobleme, die Herausforderungen durch die Bevölkerungsexplosion: Mit rund 100 Millionen Einwohnern rangiert das ehemalige Kaiserreich in Afrika nur hinter Nigeria.
In Ruanda wiederum regiert knapp 25 Jahre nach dem Genozid an den Tutsi Präsident Paul Kagame mit harter Hand. Der Vorsitzende der Afrikanischen Union ist auf Augenhöhe mit dem EU-Ratsvorsitzenden, Sebastian Kurz, wenn sie in der Hofburg neue Wege als Partner beschreiten werden. Kagame hob Ruanda auf das Niveau einer ökonomischen Prosperität und politischen Stabilität, die in Afrika ihresgleichen sucht – jedoch auf Kosten demokratischer Prinzipien. In seiner Person spiegelt sich die Ambivalenz vieler früherer Hoffnungsfiguren wider, die sich unverzichtbar wähnen und autokratische Allüren entwickelten. Zu viel hängt an singulären Staatsmännern wie Abiy und Kagame, der im Übrigen seit Langem das Engagement des Westens auf dem Kontinent einfordert. D ie Notwendigkeit einer Hinwendung zu Afrika, für die Trump-Regierung bisher ein blinder Fleck, erkannte jüngst auch Trumps Sicherheitsberater. John Bolton kündigte an, China und Russland Paroli bieten zu wollen. Der Kampf um die Hegemonie in Afrika, wie zu Zeiten des Kalten Kriegs, ist eröffnet. Die Konkurrenz aus China scheint einstweilen indessen übermächtig.
Europa orientiert sich an einer Strategie, die dem darniederliegenden alten Kontinent nach dem Zweiten Weltkrieg selbst auf die Beine half. Es ist allerhöchste Zeit für einen Marshallplan für Afrika, wie dies Deutschland vorschwebt – schon aus Europas ureigenem Interesse, um den Migrationsdruck zu lindern, Anreize zu schaffen für wirtschaftliche Kooperation, von der am Ende beide Seiten profitieren und die Afrika hilft, die Strukturprobleme in den Griff zu kriegen. Es ist eine Vorwärtsstrategie, mithin eine Lektion aus der Flüchtlingskrise von 2015, die sich lang angebahnt hat – nur dass die Maßnahmen diesmal nicht zu spät kommen sollten. Mit Lippenbekenntnissen ist es nicht getan.