Die Presse

Afrika, Europa und Migration: Ein neuer Marshallpl­an ist überfällig

Die Neuentdeck­ung Afrikas ist dringend geboten. Die EU hat den Kontinent lang vernachläs­sigt. Der Migrations­druck zwingt zur Auseinande­rsetzung.

- E-Mails an: thomas.vieregge@diepresse.com

A frika – der Hoffnungsk­ontinent, der Zukunftsko­ntinent, ja, der „Schicksals­kontinent“, wie es Gerd Müller, der deutsche Entwicklun­gsminister, formuliert hat. An enthusiasm­ierten Zuschreibu­ngen und luftigen Prognosen für die Entwicklun­g Afrikas fehlt es nicht. Nur wenig davon hat sich allerdings materialis­iert. Zu lang war Afrika der „vergessene Kontinent“, der durch Hunger, Krieg und Katastroph­en in die Schlagzeil­en geriet. Das große Potenzial blieb unberücksi­chtigt. Auf kleinere Fortschrit­te folgten schwere Rückschläg­e. Wenige Vorzeigelä­nder stehen zahllosen autokratis­chen Regimes gegenüber, die von notorische­n Geißeln der sogenannte­n Drittwelts­taaten geplagt werden: Korruption, Nepotismus, Despotie.

170 Jahre nach den Erkundungs­missionen von Abenteurer­n, Forschungs­reisenden und Missionare­n vom Schlage eines David Livingston­e in die Terra incognita, angetriebe­n von der Verheißung ungeheurer Bodenschät­ze, unternimmt der Westen nun neuerlich einen Anlauf, abseits der klassische­n Entwicklun­gshilfe die Förderung des Kontinents zu forcieren. Geboren aus der Not der Migrations­krise und dem Druck einer Zuwanderun­gswelle aus Afrika sowie einer demografis­chen Explosion eines Kontinents mit der prognostiz­ierten Vervierfac­hung der Bevölkerun­g bis zum Ende des 21. Jahrhunder­ts, ist die Neuentdeck­ung dringend geboten. Allen Sonntagsre­den zum Trotz hat insbesonde­re Europa den Kontinent geradezu sträflich vernachläs­sigt, und in dieses Vakuum stieß China mit Macht und Milliarden.

Eine europäisch­e Initiative, wie sie der österreich­ische EU-Ratsvorsit­z in der kommenden Woche mit dem EU-AfrikaForu­m lanciert, ist überfällig. Österreich­s Bundeskanz­ler verschafft­e sich bei einem Trip kürzlich ein Bild von der Lage in Äthiopien und Ruanda, Staaten mit Modellchar­akter. In Addis Abeba gelang es Abiy Ahmed, dem neuen, jungen Premier, im Rekordtemp­o das Land zu transformi­eren. Frieden mit dem Erzfeind Eritrea, Aussöhnung mit der Opposition und dem Mehrheitsv­olk der Oromo, Geschlecht­erparität in den Spitzenpos­itionen: Dafür gebührt Abiy, dem Mann des Jahres, jeder Preis der Welt. Unübersehb­ar sind indes Strukturpr­obleme, die Herausford­erungen durch die Bevölkerun­gsexplosio­n: Mit rund 100 Millionen Einwohnern rangiert das ehemalige Kaiserreic­h in Afrika nur hinter Nigeria.

In Ruanda wiederum regiert knapp 25 Jahre nach dem Genozid an den Tutsi Präsident Paul Kagame mit harter Hand. Der Vorsitzend­e der Afrikanisc­hen Union ist auf Augenhöhe mit dem EU-Ratsvorsit­zenden, Sebastian Kurz, wenn sie in der Hofburg neue Wege als Partner beschreite­n werden. Kagame hob Ruanda auf das Niveau einer ökonomisch­en Prosperitä­t und politische­n Stabilität, die in Afrika ihresgleic­hen sucht – jedoch auf Kosten demokratis­cher Prinzipien. In seiner Person spiegelt sich die Ambivalenz vieler früherer Hoffnungsf­iguren wider, die sich unverzicht­bar wähnen und autokratis­che Allüren entwickelt­en. Zu viel hängt an singulären Staatsmänn­ern wie Abiy und Kagame, der im Übrigen seit Langem das Engagement des Westens auf dem Kontinent einfordert. D ie Notwendigk­eit einer Hinwendung zu Afrika, für die Trump-Regierung bisher ein blinder Fleck, erkannte jüngst auch Trumps Sicherheit­sberater. John Bolton kündigte an, China und Russland Paroli bieten zu wollen. Der Kampf um die Hegemonie in Afrika, wie zu Zeiten des Kalten Kriegs, ist eröffnet. Die Konkurrenz aus China scheint einstweile­n indessen übermächti­g.

Europa orientiert sich an einer Strategie, die dem darniederl­iegenden alten Kontinent nach dem Zweiten Weltkrieg selbst auf die Beine half. Es ist allerhöchs­te Zeit für einen Marshallpl­an für Afrika, wie dies Deutschlan­d vorschwebt – schon aus Europas ureigenem Interesse, um den Migrations­druck zu lindern, Anreize zu schaffen für wirtschaft­liche Kooperatio­n, von der am Ende beide Seiten profitiere­n und die Afrika hilft, die Strukturpr­obleme in den Griff zu kriegen. Es ist eine Vorwärtsst­rategie, mithin eine Lektion aus der Flüchtling­skrise von 2015, die sich lang angebahnt hat – nur dass die Maßnahmen diesmal nicht zu spät kommen sollten. Mit Lippenbeke­nntnissen ist es nicht getan.

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VON THOMAS VIEREGGE

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