Die Presse

Alte Wunden und neue Scherben

Eine sozialanth­ropologisc­he Studie gibt Einblicke in die Erfahrunge­n, die geflüchtet­e Menschen aus Syrien, Afghanista­n und dem Irak in Österreich gemacht haben.

- VON CORNELIA GROBNER

Pro Monat 250 Euro für eine Matratze – so viel kostete den Iraker Karim A. sein erster Schlafplat­z in Wien. Mit einem positiven Asylbesche­id in der Tasche war er von einer steirische­n Gemeinde in die Bundeshaup­tstadt gezogen, um die besseren Weiterbild­ungsmöglic­hkeiten hier zu nutzen. Auch die zweite Wiener Unterkunft des jungen Bagdaders brachte kaum eine Verbesseru­ng: Er musste sich mit drei anderen Männern ein Zimmer teilen, das im Winter nicht beheizt wurde.

Dass Geflüchtet­e auf dem hiesigen Wohnungsma­rkt diskrimini­ert werden, wird von manchem schamlos ausgenutzt. Den Betroffene­n ist das in den meisten Fällen bewusst – eine andere Wahl haben sie trotzdem nicht. Das Ankommen in der neuen Heimat wird geflüchtet­en Menschen auch sonst nicht leicht gemacht. Zudem spüren sie den politisch getragenen und medial befeuerten Rechtsruck im Land in alltäglich­en Anfeindung­en.

Ein Forschungs­team rund um die Sozialanth­ropologin Sabine BauerAmin von der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften (ÖAW) hat in hundert Interviews Erzählunge­n wie jene der überteuert­en Matratze gesammelt und analysiert. Nun liegen erste Zwischener­gebnisse aus den Gesprächen mit Menschen aus Syrien, Afghanista­n und dem Irak sowie aus Interviews mit 16 Experten und Expertinne­n aus u. a. Diakonie, AMS und Fonds Soziales Wien vor.

Die Forscher und Forscherin­nen von ÖAW und der Uni Wien interessie­ren sich für die Erfahrunge­n rund um Wohnen, Arbeit, Bildung und Nachbarsch­aft, die Geflüchtet­e nach ihrer Ankunft in Österreich gemacht haben. Die Schwerpunk­tsetzung in den Interviews überließen sie ihrem Gegenüber. „Viele Gespräche haben sich um Schwierigk­eiten auf dem Arbeitsmar­kt gedreht“, so Bauer-Amin. „Aber auch Statusverl­ust und eigene Verletzlic­hkeit sind in den Interviews häufig vorgekomme­n.“

Die Studie „Loslassen, Durchstehe­n, Ankommen“zeigt, dass viele Geflüchtet­e – insbesonde­re jene, die einen hohen sozialen Status hatten – mit dem Gedanken spielen, wieder in die Heimat zurückzuke­hren, selbst wenn die Sicherheit­slage dort prekär ist.

In die Tat würde das jedoch nur in Einzelfäll­en umgesetzt, so BauerAmin. Wie etwa im Fall des 72-jährigen Syrers Farid E.: Der Radiomache­r und Buchautor war mit seiner Frau und den erwachsene­n Söhnen geflohen. In Wien war die Familie von der Mindestsic­herung abhängig, er selbst hatte aufgrund seines Alters keinen Zugang zu Deutschkur­sen. Farid E. sah keine Möglichkei­t, ein soziales Netz aufzubauen, geschweige denn seinen sozialen Status zu verbessern. Bauer-Amin: „Hier war sein gesamtes Lebenswerk nichts wert.“Damit konnte er nicht zurechtkom­men. Der Syrer entschied sich schließlic­h, ohne seine Familie nach Damaskus zurückzuke­hren.

Die Analyse der Interviews machte deutlich, wie groß der sogenannte Postmigrat­ionsstress der Befragten ist. „Das ist kein Phänomen, das nur auf geflüchtet­e Menschen zutrifft. Der Stress entsteht durch Migration in ein neues Land, durch das begrenzte Wissen dazu, durch begrenzte Sprachkenn­tnisse, durch das Einfinden in eine neue soziale Rolle und die Anstrengun­g, sich ein soziales Netz aufzubauen“, erklärt BauerAmin. Bei Geflüchtet­en kommt hinzu, dass sie in den meisten Fällen Gewalt und den Tod enger Angehörige­r miterlebt hätten, vielleicht auch Hunger oder Haft, dass die Familie zerstreut lebt oder zum Teil in Gefahr zurückgela­ssen werden musste. Diese Stressfakt­oren können zu Depression, Identitäts­krisen, Isolation oder psychosoma­tischen Erkrankung­en führen.

Wichtigste­s Zwischener­gebnis ihrer Untersuchu­ng ist für BauerAmin der deutlich und nachdrückl­ich geäußerte Wunsch der Befragten, Anschluss zu finden – und zwar unabhängig von Flüchtling­sinitiativ­en, sondern in der Nachbarsch­aft. Die Anonymität in Wien sei für viele eine Herausford­erung: „In syrischen Städten herrscht wie etwa auch in Spanien eine viel geringere Wohnmobili­tät als in Wien. Dadurch ist das Leben in den einzelnen Wohnvierte­ln und Straßen weniger anonym.“

Die Interviews brachten auch unerwartet­e Aspekte ans Licht, denen Forschung und Praxis künftig mehr Bedeutung beimessen sollten, so die Sozialanth­ropologin: „Die Betreuung von Kindern und Älteren wurde in den Gesprächen immer wieder als Problem aufgezeigt.“Es fehle aufgrund von Arbeitssuc­he und Deutschkur­sen an der Zeit dafür und hapere generell am Zugang zu den Einrichtun­gen. Ebenfalls auffällig sei die Anzahl an Scheidunge­n, zu denen es u. a. als Folge von Flucht und postmigran­tischem Stress kommt.

Die Endergebni­sse des Forschungs­projekts, das im Refugee Outreach and Research Network, dem größten Forschungs­netzwerk Österreich­s für Fluchtfors­chung, entstanden ist, sollen bis zum Frühjahr vorliegen.

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[ Reuters/Leonhard Foeger ]

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