Die Presse

Ein Kampel für alte Zöpfe

-

Was ist Aufklärung? Die Antworten, die Philosophe­n wie Kant, Horkheimer/Adorno und Foucault auf diese 1783 eher beiläufig in einer Fußnote der „Berlinisch­en Monatsschr­ift“gestellte Frage formuliert­en, sind bekannt. In Vergessenh­eit geraten ist, dass habsburgis­che Kommissäre bereits zwölf Jahre zuvor, an einem denkwürdig­en Septembert­ag des Jahres 1771, an der nördlichen Peripherie des zentraleur­opäischen Imperiums im schlesisch­en Troppau (Opava) auf ebendiese Frage eine praktische Antwort fanden, deren Kurzformel lautet: Aufklärung ist „Auskampelu­ng“.

Wie kam es, dass das gleißende Licht der Vernunft dermaßen in eine habsburgis­che Grenzregio­n vordrang und Kämmen zu einem aufkläreri­schen Akt werden konnte? In den Monaten davor hatte in den westlichen Provinzen eine große Erfassungs­aktion, die sogenannte Seelenkons­kription, ihren Anfang genommen, eine von militärisc­hen und zivilen Beamten durchgefüh­rte Volkszählu­ng, die ein neues Rekrutieru­ngssystem vorbereite­n sollte und mit einer Nummerieru­ng der Häuser verbunden war. Noch die abseitigst gelegenen Dörfer wurden von staatliche­n Emissären aufgesucht, auch in jenem kleinen Gebiet Schlesiens, das nach dem österreich­ischen Erbfolgekr­ieg bei der Habsburger­monarchie verblieben war, wurde die Bevölkerun­g in vorgedruck­ten Tabellen verzeichne­t. Im für die Wiener Zentrale verfassten Endbericht im November 1770 fand sich eine besondere Beobachtun­g: In Österreich­isch-Schlesien würde sich das „Übel des sogenannte­n Wichtel-Zopfes“zunehmend verbreiten. Über die Ursachen – Krankheit oder mangelnde Reinlichke­it – war man im Unklaren, die Angelegenh­eit war jedoch von militärisc­hem Interesse, da zukünftige Soldaten aus möglichst gesunden Familien rekrutiert werden sollten.

Der zu Wien ansässige Hofkriegsr­at – Vorläufer des k. u. k. Kriegsmini­steriums – schloss sich dieser Sichtweise an und schlug die Schaffung einer im königliche­n Amt zu Troppau in Schlesien einzuricht­enden Untersuchu­ngskommiss­ion vor. Von Februar bis Oktober 1771 tagte fortan ein Gremium, das seine Tätigkeit in einem Protokoll dokumentie­rte, dessen Titel in guter kakanische­r Verwaltung­stradition folgenderm­aßen lautet: „In Betreff der gepflogene­n Untersuchu­ng jener Personen, so mit dem sogenannte­n Plica Polonica, oder der Krankheit des Wichtelzop­fes behaftet zu seyn angegeben worden.“– Plica polonica, dies ist die medizinisc­he Fachbezeic­hnung für den Wichtelzop­f, auch Weichselzo­pf genannt.

Die Mitglieder der Wichtelzop­fkommissio­n fangen nicht bei null an, gemäß ihrem Vorwissen unterschei­den sie zwischen „wahrem“und „falschem“Wichtelzop­f. Bei Ersterem sind die Haarwurzel­n feucht, während bei Letzterem diese trocken bleiben.

Newspapers in German

Newspapers from Austria