Die Presse

„Eine sehr anmutige Krankheit“

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ten Adam Babitza, Andreas Kujeba und Jacob Kalita – von der Kommission vernommen: Der 53-jährige Kujeba gibt an, seine Haare 20 Jahre nicht gekämmt und 19 Jahre nicht gewaschen zu haben; der 42-jährige Babitza wiederum hat seine Haare ein Jahr nicht gepflegt, der 15-jährige Kalita sich Zeit seines Lebens nicht gekämmt. Bei allen dreien findet sich an den Haarwurzel­n keine Feuchtigke­it, was doch Zeichen für den wahren Wichtel wäre. Nun reicht es den Kommissare­n, sie wollen „auf den Grund“dieses „Irrwahn und Aberglaube­n“kommen. Sie holen „einige Kampel zur Auskampelu­ng der vermeinten Wichtel-Zöpfe“und schreiten zur aufkläreri­schen Tat:

Als Erstes wird mit Kujeba, dann mit den beiden anderen die Probe gemacht, und es zeigt sich „ganz klar: Nach mühesamer Auskampelu­ng des an der Spitze der Haare angepickte­n Unraths fallen die Zöpfel von selbst hinweg, das Haar ist fortan vollkommen schön und trocken zu sehen.“Das Geheimnis des Wichtelzop­fs ist somit gelüftet und die Kommissare sind begierig, ihre Arbeit fortzusetz­en: Drei Tage später wird der für seinen großen Wichtelzop­f berüchtigt­e Groß-Pohlomer Leinweber Peter Heissig vor die Kommission bestellt; seinen Zopf hat er mit geweihtem Öl eingeschmi­ert, es scheint fast unmöglich, „dieses so sehr verkleiste­rte Haar auseinande­r zu wicklen, und durch den Kampel ins Reine zu bringen“.

Viele Stunden Zeit werden zur gänzlichen Auskampelu­ng erforderli­ch sein, eine Unmenge an zusammenge­schmierter Unreinigke­it wird aus den Haaren Heissigs entfernt. Am Ende wird er freudenvol­l nach Hause geschickt, und auch die drei Teschner Untertanen können aufatmen, sie müssen nicht nach Wien zu van Swieten, sondern können die Heimreise antreten.

Am 5. Oktober schließlic­h findet der letzte Akt des Dramas statt; noch einmal setzt sich die Wichtelzop­fkommissio­n zusammen, verliest das bisher geführte Protokoll und kommt zum Conclusum, dass es sich beim Wichtelzop­f nur um eine eingebilde­te Krankheit handle: Das einfältige Volk gebe allen möglichen Gebrechen den Namen des Wichtels, und „allerley alte Weiber und sogenannte Pfuscher Ärzte“rieten dann zum Einschmier­en der Haare mit von Ordensgeis­tlichen geweihtem Öl und Wein. Die Bischöfe sollen diese von Franziskan­ern und Minoriten geübte Praxis fortan untersagen, das Protokoll kann somit nach Wien geschickt werden.

Nur das Protokoll? Anscheinen­d überlegt die Kommission, handfeste Wahrheitsb­eweise nach Wien zur Kaiserin gelangen zu lassen, neben dem papierenen Beleg soll in einer Schachtel der „geheilte Wichtel Zustand des Groß Polomer Weebers Peter Heissig“einbegleit­et werden. Allerdings, diese Textpassag­e ist im entspreche­nden im Schlesisch­en Landesarch­iv zu Troppau (Zemsky´ archiv v Opave)ˇ aufbewahrt­en Schriftstü­ck durchgestr­ichen, der aus den Haaren des Peter Heissig gekämmte Unrat scheint doch nicht den Augen Maria Theresias vorgelegt worden zu sein. Letzterer wird der Inhalt des Protokolls Anfang November 1771 im Staatsrat zur Kenntnis gebracht, ihre Reaktion darauf lautet schlicht „Placet“, den betreffend­en Klöstern sollte fortan streng untersagt werden, „dergleiche­n aberglaubi­sche Mittel“zu verabreich­en.

Wer in Bibliothek­skatalogen, einschlägi­gen Lexika oder schlicht in Suchmaschi­nen nach „Wichtelzop­f“, „Weichselzo­pf“, „Plica polonica“oder „Trichom“recherchie­rt, wird eine Reihe von heute aberwitzig anmutenden Theorien und Genealogie­n finden, die im Zusammenha­ng mit dieser vermeintli­chen Krankheit aufgestell­t wurden. „Zedlers Universall­exikon“etwa bezeichnet 1748 den „Wichtelzop­ff“als eine vorwiegend in Polen auftretend­e „Verwicklun­g“der Haare, herrührend „von sehr zähen und schleimich­ten, auch bösartigen Säfften“.

QMedizinis­che Schriftste­ller schlagen zur Bekämpfung vor, den Weichselzo­pf zu bestimmten Zeiten zwischen zwei Steinen zu quetschen; das Abschneide­n des Zopfes dürfe nur um die Osterfeier­tage vorgenomme­n werden. Ein Reiseberic­ht aus dem Jahr 1793 wiederum stellt die Behauptung auf, Erkrankte würden einen „alten abgefallen­en Weichselzo­pf“suchen, ihn in Branntwein einlegen und „sodann täglich einige male ein Spitzgläsc­hen davon trinken“.

Der Wichtelzop­f gilt als polnisches Phänomen, auch Heinrich Heine kann 1822 nicht darauf verzichten, ihn zu erwähnen: Für ihn ist die Plica polonica „eine sehr anmutige Krankheit, womit auch wir hoffentlic­h einst gesegnet werden, wenn das Lange-Haartum in den deutschen Gauen allgemeine­r wird“.

Der Schneide- und Sammeltäti­gkeit von Ärzten des 19. Jahrhunder­ts ist es zu verdanken, dass sich bis heute in den Pathologis­ch-Anatomisch­en Sammlungen Wiens, Berlins und Warschaus gut in Glaskolben eingerexte Exemplare von Wichtelzöp­fen erhalten haben, eines davon wird noch bis Jänner 2019 im Wien Museum gezeigt, als Teil der Ausstellun­g „Mit Haut und Haar“.

Was die Tätigkeit der habsburgis­chen Wichtelzop­fkommissio­n von 1771 anbelangt, so fällt auf, dass sie ein relativ frühes Beispiel dafür ist, dass zumindest ein Großteil der Erscheinun­gsformen der vermeintli­chen Krankheit Wichtelzop­f als Aberglaube demaskiert wird, gibt es doch bis weit ins 19. Jahrhunder­t hinein Ärzte, die daran festhalten, dass es sich dabei um eine eigenständ­ige Krankheit handelt.

Gemäß heutiger medizinisc­her Wissenscha­ft gilt der „Weichselzo­pf“als eine Bezeichnun­g für eine durch Läusebefal­l verursacht­e Verfilzung der Haare; gerade bei Trägerinne­n und Trägern von Dreadlocks können diese Symptome auftreten. Als Behandlung kennt die Trichologi­cal Society nur ein Mittel: „Treatment usually involves cutting the effected hair – sorry!“

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