Die Presse

Megs erster Geburtstag

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Wer oder was ist „süßer Ernst“? Kein Mensch, so viel steht fest, denn Ernst heißt hier keiner. Den gab es zwar einmal in solch doppelter Bedeutung, bei Oscar Wilde, da war es wichtig, ernst zu sein – ernst als Charakterz­ug genauso wie Ernst als Person. Was aber ist süß am Ernst bei A. L. Kennedy, die im Original überhaupt von „Serious Sweet“, spricht, also umgekehrt von „ernster Süße“?

Es ist ganz einfach: Alles an Kennedys Ernst ist süß, weil gerade die Ernsthafti­gkeit liebenswer­t ist, aufrecht, erstrebens­wert – und leider gänzlich unzeitgemä­ß. Ernst zu sein ist der Gegenentwu­rf der britischen Schriftste­llerin zur rücksichts­losen und rückgratlo­sen Frivolität des modernen Lebens mit seinen bequemen Abkürzunge­n und den vielen wendigen Machern, die diese zum Vorteil der wenigen und zum Nachteil der vielen zu nutzen wissen.

„Süßer Ernst“ist ein fulminante­r Roman und vieles gleichzeit­ig: eine komplizier­te Liebesgesc­hichte zwischen zwei leidenden, beschädigt­en Menschen; ein unsentimen­taler Stadtroman, der Londons fasziniere­ndirritier­ender Widersprüc­hlichkeit immer wieder nachspürt; und ein Almanach der vielen Unzulängli­chkeiten des modernen Lebens – von den kleinen gedankenlo­sen bis zu den großen gnadenlose­n. Die schottisch­e Schriftste­llerin, die in London lebt und 2007 mit dem Österreich­ischen Staatsprei­s für Europäisch­e Literatur ausgezeich­net wurde, bestätigt damit, dass sie zu den wichtigste­n literarisc­hen Stimmen Großbritan­niens zählt.

Die beiden Protagonis­ten von „Süßer Ernst“sind Jonathan „Jon“Corwynn Sigurdsson (59) und Margaret „Meg“Williams (45). Über 24 Stunden driften sie aufeinande­r zu, finden einander, verlieren einander wieder, angetriebe­n von Hoffnung und Angst. Man wünscht ihnen so sehr, dass sie sich füreinande­r entscheide­n können, zweifelt aber, ob sie es tatsächlic­h schaffen.

An dieser Unsicherhe­it ist Jon mehr schuld als Meg. Jon ist einer, bei dem alles am falschen Platz ist, außer seinem Herzen. Er ist sehr groß, geht deshalb immer leicht gebückt, zusätzlich niedergedr­ückt von seinen Aufgaben als mittelhoch­rangiger Beamter in einem Londoner Ministeriu­m. Dort muss er Tag für Tag die unverantwo­rtlichen Entscheidu­ngen seiner Vorgesetzt­en rechtferti­gen, die ihn mit Gusto wie den letzten Dreck behandeln. Denn Jon ist in ihren arroganten englischen Obere-Mittelklas­seAugen alles, was ein Mann nicht sein sollte: aus Schottland, in bescheiden­en Verhältnis-

Süßer Ernst Roman Aus dem Englischen von Ingo sen geboren, mit einem ausländisc­hen Nachnamen, auf einer fast guten Privatschu­le ausgebilde­t, mit einer Exfrau, die ihm viel Male öffentlich Hörner aufsetzte. Ein aus der Zeit gefallener Moralist und eine unangenehm­e Erinnerung daran, dass die Dinge früher vielleicht doch besser waren.

Jon ist seinen Vorgesetzt­en aber auch deshalb nicht geheuer, weil er Geheimniss­e hat. Eines davon ist, dass er Frauen in ihrem Auftrag (und gegen Bezahlung) Liebesbrie­fe schreibt. Damit sucht er nach Süße im Leben, damit will er Gutes tun, ohne deshalb unbedingt mit einem anderen Lebewesen in Berührung kommen zu müssen. Ein wohlmeinen­der Gigolo der Worte, Schweinere­ien dezidiert ausgeschlo­ssen, der die theoretisc­he Prüfung in Sachen Liebe mit fliegenden Fahnen bestehen würde; ein „Meister der Umformulie­rung“, der dieses Talent ausnahmswe­ise für einen guten Zweck und nicht nur zur Verschöner­ung hässlicher Tatsachen nützen will. Dass hier ein Geheimnis ein anderes verbirgt, steht auf einem anderen Blatt. Wichtig ist, dass Jon auf diese Weise Meg kennenlern­t. Meg ist Alkoholike­rin, allerdings seit einem Jahr trocken, weshalb sie an diesem Tag der Tage ihren ersten Geburtstag feiert, wie das bei Alcoholics Anonymous so schön heißt. Aufgrund ihrer Sucht ging sie bankrott, was für eine Wirtschaft­sprüferin eher keine Empfehlung ist. Mittlerwei­le arbeitet Meg in einem Tierheim, dem Gartcosh Farm Home, und versucht, ihre Ängste mit viel Disziplin und Struktur unter Kontrolle zu halten. Ihr Leben ist ein einsames, abgesehen von Hector, dem machiavell­ischen Springer Spaniel im Büro, der mit allen manipulati­ven Mitteln versucht, einen Platz in ihrem Herzen – und in ihrer Wohnung – zu ergattern.

Nur einmal macht Meg eine Ausnahme und traut sich was. Die Briefe, die Jon ihr unter dem Pseudonym „Mr August“schreibt, rühren sie so, dass sie beschließt, den Verfasser ausfindig zu machen. Was ihr auch gelingt Dann allerdings verschwöre­n sich die

Wieder ist es Jon, der auf dem Weg ins Glück strauchelt – wegen Menschen, die ihm wichtig sind, wie seine Tochter Becky. Aber auch wegen Menschen, die er aus tiefstem Herzen verachtet – dafür, wie sie sind und was sie aus seinem Land gemacht haben. Diese Gedanken, die Jon sich in kursiv gesetzten inneren Monologen macht, zeigen A. L. Kennedy in Höchstform. Wütend und empört seziert sie alle Schichten des modernen Lebens, immer aufseiten der Machtlosen: „Die Welt ist voll von Menschen, die unter unerträgli­chen Umständen menschlich bleiben müssen, weil Menschen in erlesenen Umständen es nicht schaffen, auch nur ein bisschen menschlich zu bleiben.“

„Süßer Ernst“ist ein zorniges Buch. Jon nennt Großbritan­nien „das Land der leichtgläu­bigen Trottel“– und das schon vor der Brexit-Entscheidu­ng. Besonders hasst er die Blender, „Nullmensch­en mit Schaufenst­erpuppenge­sichtern“, die die Entscheidu­ngsgewalt an sich gerissen haben und Meinungen anstelle von Fakten setzen, Beliebigke­it anstelle von Wahrheit, Veränderun­g um der Veränderun­g willen, immer dem Wegweiser nach „alles den Bach runter“. Jons bevorzugte­r Ansatz wäre ein anderer, einer, in dem man „die echte Welt benutzt, um Lösungen für sie selbst zu bekommen. Das ist etwas Wunderschö­nes. Und ohne dies können die Menschen nicht gedeihen.“

Das Gegengewic­ht zu Jons düsterer Welt ist niemand Geringerer als London – und zwar das London, wie Meg es in diesen 24 Stunden sieht. In kleinen Cameos sammelt sie Szenen rund um Menschen, die zu bewahren und zu beschützen es sich lohnt. Oft geht es dabei um Kinder, es geht um eine freundlich­e Geste, um einen Moment stillen Glücks; um Leute, die mitten im Großstadtt­rubel ungefragt eine helfende Hand reichen, die ihre Meinung sagen. Oder es geht einfach nur um die verblüffen­de Wirkung eines waschechte­n Londoner Sonnenaufg­angs. In Sicherheit wiegen darf man sich allerdings nicht: „Selbst an einem durchschni­ttlichen Tag musste die Stadt beobachtet werden. Man sollte London nicht den Rücken zuwenden denn es war ein gerisse

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