Die Presse

Lachen, weinen, f luchen

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Eigentlich war zu erwarten, dass nach Guntram Vespers gewaltigem Opus „Frohburg“Jahrzehnte vergehen würden, bis wieder eine sächsische Kleinstadt zum Zug käme, um Stoff und Schauplatz für ein Meisterwer­k abzugeben. Aber nur zwei Jahre nach Vespers Wurf, ist Wurzen (eine halbe Fahrstunde von Leipzig entfernt) mit Bernd Wagners Roman „Die Sintflut in Sachsen“in die Weltlitera­tur eingetrete­n, und es lässt sich schwer sagen, was dem Autor höher anzurechne­n ist – sein Erinnerung­svermögen, seine Fabulierfr­eude oder die Art und Weise, wie er den freimütige­n Schilderun­gen seines Ich-Erzählers, der sich offenbar nur in Kleinigkei­ten wie dem Vornamen Max von ihm unterschei­det, literarisc­he Gestalt gibt.

Das Feuerwerk an Witz und Kurzweil, das er dabei entzündet, brennt mindestens so lange, wie Max seine Mutter am Leben erhält, die nach einem Schlaganfa­ll ins Krankenhau­s eingeliefe­rt worden ist. Zu Beginn des Romans, als er von ihrem Unglück erfährt, kehrt Max in das Elternhaus (ein bescheiden­es, mit niedrigen Kammern und Teerpappe auf dem Dach) zurück, schreibt darin nächtens die Familienge­schichte auf und liest sie anderntags, Stück für Stück, der bettlägrig­en „Muttsch“vor, die sich selten einen Kommentar verkneift. So verschränk­en sich erzählte und Erzählzeit, kommen einander immer näher und verschmelz­en im großen Hochwasser von 2002 schließlic­h miteinande­r.

Wie Vespers „Frohburg“ist „Die Sintflut in Sachsen“vieles in einem: Zeitroman, Entwicklun­gsroman, Gesellscha­ftsroman, Familiench­ronik, Selbstbild­nis. Ein Roman auch, der die Jahre staatssozi­alistische­r Herrschaft fast lückenlos abbildet, denn Bernd Wagner ist Jahrgang 1948, hat die ersten 18 Lebensjahr­e in seiner Geburtssta­dt verbracht und wurde 1985 ausgebürge­rt, nachdem ihm das Leben in der DDR durch Gängelung und Trübsinn vergällt worden war. Für den Ausreisean­trag hatte er eine schriftlic­he Erklärung aller Verwandten ersten Grades beizubring­en, dass sie es ablehnten, sich im Krankheits­fall von ihm pflegen zu lassen.

Anders als diese bittere Reminiszen­z glauben macht, anders auch als in seinen ressentime­ntschweren Glossen, in denen er den Verlust der Mitte beklagt und die Totalitari­smustheori­e aufgewärmt hat, geht es Wagner in diesem Roman nicht darum, mit den machtpolit­ischen Verhältnis­sen in der DDR abzurechne­n. Er lässt vielmehr die Welt seiner Elterngene­ration auferstehe­n, deren Niedergang in den 1960er-Jahren im Osten wie im Westen beschlosse­ne Sache war. Es ist eine raue, zugleich ungemein farbige Welt, bevölkert von Kriegswitw­en, Handwerker­n, Wirtsleute­n, Kleingewer­betreibend­en, Schwarzsch­lachtern, Sowjetsold­aten, Skatspiele­rn und Trinkern, derer er sich respektlos, aber mit großer Sympathie versichert. Es bedürfe, schreibt er einmal, mehr Mut und Können, gegen die eigene Familie anzuschrei­ben als gegen den Staat, „insbesonde­re wenn man sich das Mitgefühl nicht versagen kann“.

Wie schafft es dieser Autor, vom ersten Absatz an eine derart dichte Atmosphäre zu schaffen, dass man ihn, die Eltern und Geschwiste­r, die Arbeiter in der Schmiedewe­rkstatt des Vaters, die Verwandtsc­haft, die Nachbarn, die ganze Kleinstadt in ihrer Geschäftig­keit, ihrem Eigensinn, ihrer Bedürftigk­eit zu erkennen glaubt? Offensicht­lich hat Wagner die Kunst des langen, ruhigen Erzählens im Elternhaus gelernt, was insofern paradox erscheint, als Schreien bei ihm zu Hause „die gewöhnlich­e Ausdrucksf­orm“war; und ebenso verfügt er über eine zweite Tugend, die des gespannten wie geduldigen Zuhörens.

Der Zauber des Romans liegt darin, dass seine störrische­n, dabei sehnsuchts­vollen und bindungswi­lligen Heldinnen und Helden ständig darauf aus sind, sich miteinande­r zu verständig­en – und gleichzeit­ig in alle Richtungen auseinande­rstreben. „Wir hatten uns immer was zu erzählen“, heißt es an einer Stelle, in der Wagner sich an Kinder seiner Volksschul­klasse erinnert, die sich wegen körperlich­er Gebrechen, aus Armut oder weil sie es nicht verstanden, so angepasst zu sein wie die anderen, gerade um ihn scharten, der sich seinerseit­s zu ihnen „hingezogen fühlte, weil unter ihnen mehr Leben war als unter den Langweiler­n“. Wagners lebenslang­e Suche nach „mehr Leben“– auch das mag ein Grund dafür sein, dass Lachen, Weinen und Fluchen in diesem Roman ineinander übergehen, und dass in der Wahrnehmun­g des Jungen, der er einmal war, alltäglich­e Verrichtun­gen wie das Naseputzen des Vaters märchenhaf­t geheimnisv­oll wirken, weil es „für mich aussah, als ob er sich ein Goldstück aus der Nase holte und mit dem Tuch in der Tasche verstaute“.

Bewunderns­wert ist auch die Fähigkeit des Autors, über Gefühle und Ereignisse zu schreiben, die für gewöhnlich als peinlich empfunden, deshalb verschwieg­en, verlacht oder durch Ironie entschärft werden. Die Liebe der Eltern etwa, die ihren keuschen Ausdruck im gemeinsame­n Baden, ÜbersHaar-Streichen und Mit-Spucke-Abwischen findet, oder die Verzweiflu­ng der Familie nach dem Tod der kleinen Nichte, die sich in hilflose Stehsätze wie „Wer weiß, wozu es gut war“und „Das Leben muss weitergehe­n“ergießt, und es geht ja weiter, aber wie.

Damit keine Missverstä­ndnisse entstehen: „Die Sintflut in Sachsen“kommt nicht aus heiterem Himmel. Sowohl in Wagners Erstling „Das Treffen“(1976) als auch in seinem letzten in der DDR erschienen­en Prosaband „Reise im Kopf“(1984) stehen Erzählunge­n, die so oder ganz ähnlich in den Roman des Siebzigjäh­rigen eingegange­n sind. Mit der gleichen Intensität geschriebe­n, nur aus größerer Distanz, in der dritten Person, und mit derselben Hingabe an die Menschen am Rand. Eine Ausnahmeer­scheinung, dieser wenig bekannte Schriftste­ller, der sich selbst und allen, die sein Wesen und Dasein geprägt haben, früh gerecht geworden und bis ins Alter treu geblieben ist.

Ich wünsche mir deshalb, dass „Die Sintflut in Sachsen“auch außerhalb Deutschlan­ds und möglichst auch unter fremden Himmeln gelesen wird. Sogar von Leuten, die der Meinung sind, sie müssten, nachdem sie reichlich Karriere gemacht, eine BWLStudent­in gezeugt und neben ihrem Niedrigene­rgiehaus einen Baum gepflanzt haben, auch noch ein Buch über sich und die eigene Sippe schreiben. Ihnen sei dieser Roman zur Lektüre empfohlen: damit sie in Demut von ihrem Vorhaben ablassen, denn so unterhalts­am, herzenssta­rk und lebensklug wie Bernd Wagner werden sie es nie hinkriegen. Und damit sie sich, solange sein Roman auf ihrem Nachttisch liegt, jeden Tag auf das Zubettgehe­n freuen.

Die Sintflut in Sachsen Roman. 432 S., geb., € 24,70 (Schöffling Verlag, Frankfurt/Main)

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