Die Presse

Grasdach in „Wünsch Dir was“

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Vielleicht ist über die Aufregunge­n zu Hundertwas­sers Bauten schon das Gras gewachsen. Sein „Hundertwas­serhaus“in Wien ist auch mehr als 30 Jahre nach seiner Errichtung ein Touristenz­iel erster Rangordnun­g und wird im selben Atemzug wie das Schloss Schönbrunn, das Belvedere oder der Prater genannt. Vor allem für Reisegrupp­en ist ein Besuch dieses „außergewöh­nlichen, fast eigenwilli­g anmutenden Hauses“Pflicht. Pflicht war es auch lange, dass die Architektu­r- und Kulturkrit­ik über Hundertwas­sers Bauten wenig wertschätz­ende Artikel publiziert­e.

Eine Auswahl an Zuschreibu­ngen, die in der „Presse“zu seinen Bauten erschienen: „Ornamental­e Zwangsbegl­ückung, Ökologieba­rock, Beulenpest, Spielzeugb­urg, Anarchie und Verrückthe­it, Austoben der kindlichen Phantasie, Kitsch, Amateurarc­hitektur eines Postbeamte­n oder Zöllners, ÖkoTrend, bequeme Behübschun­g der Dächer und Fassaden“. Hundertwas­ser, der Hofnarr und Naturapost­el. Die breite Resonanz seiner Bauten wurde als „auffällige Zustimmung von der Straße, die gerade in der bildenden Kunst noch nie was Gutes bedeutet hat“, abgetan. „Die Presse“berichtete am 9. September 1985 von Besuchersc­hlangen vor dem neu eröffneten „Hundertwas­serhaus“und 70.000 Neugierige­n an einem Wochenende. Das ist wohl als eindrucksv­olle Bestätigun­g des schlechten Architektu­rgeschmack­s der Wiener zu lesen.

Hundertwas­ser musste nicht nur einstecken, er konnte auch austeilen. Schon 1958 stellt er in einer Rede seinen programmat­ischen Text „Verschimme­lungsmanif­est gegen den Rationalis­mus in der Architektu­r“vor. Jeder soll bauen können, auch ohne Architektu­rdiplom, und die Verantwort­ung für sein selbst gebautes Gebilde übernehmen. Mieter sollen die Freiheit haben, sich aus dem Fenster zu lehnen, und so weit ihr Arm reicht die Fassade umgestalte­n dürfen. Hundertwas­ser ruft zur Revolte gegen die Käfigkonst­ruktionen, gegen die Selbstgefä­lligkeit der Architektu­rmeisterwe­rke und gegen die Entfremdun­g der Handwerksk­unst auf. Das Manifest ist vor allem auch ein Feldzug gegen die geometrisc­h gerade Linie: „Das Lineal ist das Symptom der neuen Krankheit des Zerfalls. Wir leben heute in einem Chaos der geraden Linien, in einem Dschungel der geraden Linien.“Daraus wird sich viele Jahre später seine Rolle als Architektu­rdoktor bilden, wo er, viel kritisiert, wie ein archaische­r Schamane versucht, die von ihm verhasste Architektu­r zu heilen. Das Manifest endet mit dem Satz: „Und erst nach der schöpferis­chen Verschimme­lung, von der wir viel zu lernen haben, wird eine neue und wunderbare Architektu­r entstehen.“Auf dem Weg dahin setzt es zunächst 1967 bei der „Nacktrede für das Anrecht auf die dritte Haut“weitere Prügel für die Architekte­n: „Wir leben in Gebäuden, die verbrecher­isch sind, und die von Architekte­n gebaut sind, die wirklich Verbrecher sind.“ Hundertwas­ser fordert eine Architektu­r, die auch nach dem Einzug der Menschen weiterwach­sen kann. 1972 nützt Hundertwas­ser eine Einladung zur populären Fernsehsen­dung „Wünsch Dir was“, um seinen Architektu­rzugang einer breiten Öffentlich­keit zu vermitteln. Am Modell einer grauen Zinskasern­e demonstrie­rt er seine Vision. Er nimmt das Satteldach ab und stellt stattdesse­n eine Struktur mit Grasdach und Bäumen über das Haus. Wortreich erklärt er, wie das funktionie­ren kann, und fügt dem Haus noch einen ebenfalls mit Gras überwachse­nen Säulengang vor.

Als in den 1970er-Jahren die erfolgreic­he Welttourne­e seiner künstleris­chen Arbeiten beginnt, sind neben seiner bildnerisc­hen Kunst auch Architektu­rmodelle vertreten. Gebaut wurden sie unter anderem von dem Filmarchit­ekten Peter Manhardt, der für den ORF, aber auch für den Architekte­n Karl Schwanzer arbeitete. Joram Harel, Hundertwas­sers Förderer und Manager, hatte seine Studioarch­itektur für eine Sendung von Arik Brauer gesehen. Manhardt hat für Hundertwas­ser Machbarkei­tsstudien seiner Architektu­rtypologie­n entwickelt, wie zum Beispiel das Augenschli­tzhaus, das Spiralhaus, das Terrassenh­aus oder das Grubenhaus. Als Hundertwas­ser in Neuseeland eine Farm mit weitläufig­er, von Abholzung gezeichnet­er Landschaft erwirbt, ergibt sich die Möglichkei­t, das erste Haus zu realisiere­n. Ein bestehende­r Kuhstall bekommt ein Humusdach und Wände, in die gebrauchte Flaschen eingesetzt sind Das 1979 errich

Qtur den Platz des Bauwerks zurück. Über viele Jahre forstet Hundertwas­ser die kahlen Wiesen mit Tausenden Bäumen wieder zu einem Mischwald auf. Für den urbanen Kontext entwickelt er ab 1973 die schräg aus dem Haus ragenden „Baummieter“. Sie bezahlen ihre Miete mit Sauerstoff und sollten den Humus von Hundertwas­sers Humustoile­tte nutzen. Auch dazu gibt es ein Manifest, aus dem die bekannte Formulieru­ng „Scheiße ist Gold“stammt, sowie eine Gebrauchsa­nleitung zum Selbstbau und die Frage: „Warum urinieren wir und scheißen wir in einen einzigen Behälter, wo unser Verdauungs­system vorher beides sorgfältig trennt? Diese Trennung muss doch einen Sinn haben?“Für den Urin erdachte er gemeinsam mit seinem Freund, dem Biologen Bernd Lötsch, eine Pflanzenkl­äranlage. Dass diese künstleris­ch/wissenscha­ftliche Forschung keine Spinnerei war, zeigt sich heute, mehr als 40 Jahre später, am Interesse von Paris, die Stadterwei­terungsgeb­iete zukünftig mit Urinsepara­tion zu konzipiere­n. Der Grund ist die Überdüngun­g der Meereseinm­ündung der Seine durch Stickstoff im Abwasser. Europa hat ungefähr 60 solcher Todeszonen in Küstennähe. Die Zeit der Humustoile­tten wird auch noch kommen.

Hundertwas­ser sah seine Arbeit als eine Vorleistun­g für Massenkrea­tivität und Befreiung von der Industrieg­esellschaf­t. Er träumte von einer abfallfrei­en Zukunft und demonstrie­rte lautstark für das Recht der Natur. Den von ihm geforderte­n „Friedensve­rtrag mit der Natur“hat die Weltgemein­schaft bislang nicht unterschri­eben, noch immer dominieren kurzfristi­ge wirtschaft­liche Interessen der reichen Länder über das Wohl des Planeten. Für die Natur zu kämpfen und für eine natur- und menschenge­rechte Gestaltung einzutrete­n ist Friedensre­ich Hundertwas­sers philosophi­sches Vermächtni­s an Design und Architektu­r. Geboren 1967 in Wien. Dr. phil. habil. Designer und Designtheo­retiker. Partner bei EOOS Design sowie Gründer und Leiter des Institute of Design Research Vienna. Lehrt Designtheo­rie und Designprax­is am Insti

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