„Auswanderung ist nicht in Afrikas Interesse“
Interview. Mehr als 20 Jahre lang berichtete Stephen Smith für führende französische Zeitungen aus und über Afrika. Europa müsse sich auf eine zwei Generationen dauernde massive Migrationswelle einrichten, sagt er im „Presse“-Gespräch.
Die Presse: Kameruns 85-jähriger Präsident, Paul Biya, hat jüngst nach 36 Jahren ein siebentes Mandat erhalten. Könnte man Afrikas Problem der Gerontokratie, das Sie beschreiben, klarer auf den Punkt bringen? Stephen Smith: Wir können auch daran denken, dass Robert Mugabe in Zimbabwe erst im vorigen Jahr abgesetzt worden ist, mit 93. Das Prinzip der Seniorität gibt es überall auf der Welt. Aber es kreuzt sich hier mit der Vorstellung, dass Führer in Afrika denken, dass sie in gewisser Weise einen Besitzanspruch auf den Staat haben, dass sie ihn verkörpern.
Gibt es Beispiele für erfolgreiche, friedliche Machtwechsel? Afrika ist in einem Wandel begriffen. Er nimmt nicht immer die politischen Formen an, die wir erwarten. Viel wird beispielsweise über die Religion ausgespielt. Die evangelikalen Kirchen haben es für junge Menschen, vor allem für junge Frauen, möglich gemacht, sich einzubringen. Dieser Prozess ist schon sehr fortgeschritten. Man muss auch daran denken, dass die jungen Menschen in Afrika mit dem Internet und den neuen Kommunikationsformen aufge- wachsen sind. Das stellt die Kenntnisstrukturen, das Wissen, das zwischen den Generationen verteilt war, auf den Kopf: Jetzt sind es die Jungen, die sich sehr viel besser in der neuen Welt orientieren als die Alten. Daher glaube ich, dass Afrika dabei ist, dieses Senioritätsprinzip zu überwinden. Aber die alten Herren klammern sich an ihre Machthebel.
Die Europäer blicken nicht so differenziert nach Afrika, sondern eher mit Furcht. Sie schreiben, dass in den nächsten drei Jahrzehnten gut 150 Millionen Afrikaner kommen könnten. Wie soll man damit umgehen? Man muss aufpassen, Zahlen nicht zum Fetisch zu machen. Ich zitiere Statistiken, um eine Größenordnung zu vermitteln. Aber alles deutet darauf hin, dass es eine sehr massive Migrationswelle geben wird, weil Afrika seine demografische Transition beendet und jetzt ein Schwellenkontinent ist. Länder wie Ghana, Elfenbeinküste, Kenia oder Nigeria sind heute ungefähr da, wo Mexiko 1975 war: ein Land, in dem es genügend viele Menschen gibt, die sich das Projekt einer Migration leisten können.
Womit wir beim Grundproblem des Abwanderns gebildeter, un- ternehmerischer Menschen sind. Wir haben lang falscherweise geglaubt, dass es die Ärmsten der Armen sind, die auswandern. Das ist nicht der Fall. Es sind diejenigen, die den Kopf über Wasser haben, die dynamischen Elemente der afrikanischen Gesellschaften. Darum wiederhole ich unermüdlich, dass es nicht in Afrikas Interesse ist, dass diese Menschen auswandern, weil man sie vor Ort braucht: nicht nur für die Entwicklung und die Wirtschaft, sondern auch für die Demokratie. Es ist schlecht für Afrika, und es genügt nicht, dass diese Menschen Geld nach Hause schicken. Das wird ihre Abwesenheit nicht kompensieren.
Braucht Afrika mehr Entwicklungshilfe? Es ist eine Frage des Zeithorizonts. Kurzfristig ist Entwicklungshilfe eine Subvention für das Migrationsprojekt – gerade deshalb, weil sie dem Mittelstand in ärmeren Ländern hilft, nach Europa auszureisen. Langfristig gibt es keine Alternative zur Entwicklung Afrikas. Denn wenn die afrikanischen Staaten wirklich gut entwickelt sind, werden ihre Einwohner auch lieber zu Hause bleiben, statt ihr Glück in der Welt zu versuchen. Das hat man in Mexiko gesehen: Heute kommen weniger Mexikaner in die USA, als aus den USA nach Mexiko zurückkommen. Da müssen wir durch, das ist eine Frage von zwei Generationen. Die Wanderung wird stattfinden. Wird Europa sich darauf einigen, was seine Migrationspolitik ist? Was heißt das konkret? Das wird sicher heißen, dass nicht alle kommen können, dass man wählen muss, auch im Lichte der sozialen Entwicklung in Europa. Denn die Eingliederung von Ausländern, die man zu Mitbürgern machen will, kostet Arbeit. Und zwar kollektive Arbeit, von den Einwanderern wie von denen, die schon in Europa sind.
Ihr Buch wird von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron oft zitiert, wenn er über Afrika spricht. Ehrt Sie das? Die politische Relevanz kommt leider nicht nur von Präsident Macron. Rechtsextreme haben versucht, mich zu vereinnahmen. Das kann ich nicht verhindern. Gegen Applaus von der falschen Seite kann man nichts machen. Ich hoffe, dass es eine faktische Basis gibt sowie einen Ton, der nicht militant ist und es somit möglich macht, dass das Buch von verschiedenen politischen Überzeugungen diskutiert wird. lehrt Afrikastudien an der Duke University. 1986 bis 2005 war er leitender Afrika-Redakteur der Zeitungen „Liberation“´ und „Le Monde“. Sein jüngstes Buch, „Nach Europa!“, wurde heuer von der Academie´ francaise¸ ausgezeichnet.