Visegr´ad-Staaten präsentieren sich als neuer Machtfaktor
Ostmitteleuropa. Kanzlerin Merkel reiste zum V4-Gipfel nach Bratislava. Spekulationen über Berlins Umorientierung.
Budapest/Bratislava. Peter Pellegrini rief – und alle geladenen Gäste kamen, inklusive Angela Merkel: Der slowakische Ministerpräsident Pellegrini hatte am Donnerstag zum Gipfeltreffen der Visegrad-´Gruppe („V4“= Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei) anlässlich des 30. Jubiläums des Umbruchsjahres 1989 auch die deutsche Bundeskanzlerin nach Bratislava (Pressburg) eingeladen; der slowakische Premier ist derzeit turnusmäßiger Vorsitzender der V4.
Das Treffen war dann alles andere als eine inhaltsleere Jubiläumsfeier. In den Visegrad-´Ländern wurde es als außerordentlich wichtig eingestuft. Auf der Webseite des regierungsnahen ungarischen Senders Echo TV wurde das Treffen in Bratislava sogar mit dem schwer zu übersetzenden Wort „rendhagyo“´ beschrieben – etwas, was eine neue Ordnung einläutet. Auffallend war, dass staatliche und regierungsnahe Medien sehr viel prominenter über den Gipfel berichteten als die unabhängigen Medien.
Laut Tagesordnung ging es konkret um den neuen Haushaltsrahmen der EU, den Brexit, die anstehenden Wahlen zum europäischen Parlament und die „gesellschaftlichen Veränderungen in der Region seit der Wende vor 30 Jahren“. Speziell die Diskussionen über den nächsten EU-Haushalt dürften schwer gewesen sein.
Das Europäische Parlament fordert, die Verteilung von Geldern künftig an die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards und an effektive Korruptionsbekämpfung zu koppeln. Das ist eine klare Warnung an Polen und Ungarn, gegen die Disziplinarverfahren gemäß Artikel 7 des EU-Vertrages laufen – wegen der „systemischen Gefährdung“des Rechtsstaates in den beiden Ländern. Ringen um ein neues Gleichgewicht
Tatsächlich ging es um eine neue Ordnung in Europa – und darum geht es hinter den Kulissen auch schon seit geraumer Zeit. Die Herausbildung des Visegrad-´Blocks als neuem, einflussreichen Machtfaktor in der EU und der bevorstehende Abschied der Briten hat zu einem Ringen um ein neues Gleichgewicht auf dem Kontinent geführt.
Im Zentrum dieses Ringens steht Deutschland, das selbst den besten Weg in die Zukunft für sich sucht. Mehr europäische Integration oder mehr Nationalstaat? Deutsch-französisches Tandem oder Schwenk nach Osten zu den V4? Auch für die Ostmitteleuropäer stellen sich grundsätzliche Fragen. Zur Migration und zur Zukunft der europäischen Integration vertreten sie radikal andere Meinungen als Berlin, von dem sie andererseits wirtschaftlich abhängig sind – genauso wie auch von den Kohäsions-Fonds der EU. Böse Zungen beschreiben die V4 auch als „Fabrikhalle Deutschlands“oder „Verein der Länder, in denen die Deutschen Autos bauen“. Die besseren Partner für Berlin?
Das ist dann auch die Antwort aus Berlin, wenn die V4 wieder einmal betonen, sie und nicht Frankreich wären der bessere strategische Partner für Berlin in Europa, da ihr Handel mit Deutschland um die Hälfte größer sei als der Handel zwischen Deutschland und Frankreich. Das liegt aber, so kontern die Deutschen dann, zu einem guten Teil daran, dass deutsche Firmen in den V4-Ländern Waren herstellen, die dann nach Deutschland gehen – eigentlich fast deutsch-deutscher Handel also.
Das Treffen in Bratislava wurde in Polen und Ungarn durchaus als Schritt in die Richtung einer neuen Partnerschaft gewertet. Dass Kanzlerin Merkel zum Gipfel anreiste, sei eine Anerkennung des gewachsenen Gewichts der Visegrader´ in Europa, hieß es.
Realistischer ist aber wohl die Sicht, dass Merkel den Visegradern´ vielleicht eine potenzielle Rolle als ausbalancierendes Gegengewicht zu Frankreich zudenkt. In dem Sinne wäre der Bratislava-Gipfel gewissermaßen eine symbolische Geste an die Mittelosteuropäer nach Unterzeichnung des neuen Freundschaftsvertrags mit Frankreich (Vertrag von Aachen).
Man kann es freilich auch zynischer sehen: als einen verdeckten Versuch der Kanzlerin, den Zusammenhalt der Osteuropäer zu schwächen. Sie traf sich nämlich nur mit dem slowakischen Premier zu einem Gespräch, in dem es um „bilaterale Beziehungen“ging (im Gegensatz zu den Beziehungen mit den V4) und in dessen Rahmen Pellegrini um Merkels Unterstützung bat, damit die geplante neue Europäische Arbeitsbehörde in die Slowakei kommt. Das MerkelPellegrini-Treffen werteten denn auch manche als Versuch, die Slowaken, die als einziges Visegrad-´Land zur Eurozone gehören, aus der V4-Front herauszulösen.
Merkel fand ganz andere Worte, um ihre Teilnahme am V4-Gipfel zu erklären. Da war nicht mehr von „strategischer Partnerschaft“die Rede, sondern vom Gedenken an die Wende vor 30 Jahren. Vorerst könnte die von Warschau und Budapest gewünschte „strategische Partnerschaft“mit Berlin also Wunschtraum bleiben – so lange sie auf ihren Positionen beharren und mehr europäische Integration und eine differenzierte Migrationspolitik kategorisch ablehnen.