Moskau will reden und rüstet auf
Rüstungskontrolle. Das Aus für den INF-Vertrag über die Zerstörung atomarer Mittelstreckenraketen scheint besiegelt. Russland betont trotzdem weitere Gesprächsbereitschaft mit den USA.
Moskau. Seit vielen Jahren ist Rüstungskontrolle das Metier von Sergej Rjabkow. Der russische Vizeaußenminister – schwarze Hornbrille, weißes Haar, exakter Seitenscheitel – verbringt einen Großteil seiner Arbeitszeit in Sitzungen hinter verschlossenen Türen. Sein Chef Sergej Lawrow steht üblicherweise im Rampenlicht. Doch seit dem angekündigten Ausstieg der USA aus dem Vertrag über die Verschrottung atomarer Mittelstreckenraketen (INF) und dem nachfolgenden Rückzug Russlands ist Rjabkows Dossier in aller Munde. Gestern legte er in Moskau die russische Sichtweise dar.
Mit der Aufkündigung des INFVertrags gerät ein zentraler Pfeiler der internationalen Rüstungskontrolle ins Wanken. Amerikaner und Russen scheint dieser Tage nur ein Faktor zu verbinden: tiefes gegenseitiges Misstrauen. Zum RhetorikRepertoire russischer Regierungsmitglieder gehört es dieser Tage, sich über die Vorwürfe des politischen Gegenübers lustig zu machen. Beispiel: die US-Vorwürfe bezüglich der Verletzung des Abkommens durch Russland.
Rjabkow tat die Anschuldigungen, das der neue russische Marschflugkörper 9M729 die im Vertrag festgelegte Reichweite von 500 Kilometer überschreite, als „unbegründet“ab. Moskau habe den Vertrag also nicht verletzt, Washington hingegen sehr wohl. Bis zum Auslaufen des Abkommens haben beide Seiten noch sechs Monate Zeit, um die konträren Positionen zu klären. ABM-Ausstieg war die Ursünde
Aus russischer Sicht liegt die Ursache für die aktuelle Entgleisung in den frühen 2000er-Jahren. 2001 kündigte Washington den ABMVertrag, er lief im Sommer 2002 aus. Nach 9/11 argumentierten die USA mit neuen Sicherheits-Herausforderungen. Zudem: „Der Kalte Krieg ist vorüber. Die Sowjetunion existiert nicht mehr.“
Präsident Wladimir Putin sah zunächst die Sicherheit Russlands nicht bedroht. Doch angesichts des geplanten US-Raketenabwehrschirms in Europa änderte er seine Position: Putin sah das „Gleichgewicht des Schreckens“in Gefahr. Heute verschärft Moskau seine Vorwürfe: Die in Rumänien installierten und in Polen geplanten Raketenabwehrsysteme könnten auch als Abschussrampen für atomare Mittelstreckenraketen dienen, was gegen den INF-Vertrag verstoße, erklärte Rjabkow.
Er zeigte sich offen für neue Verhandlungen, allein – es fehle an Vorschlägen von US-Seite. „Wir erwarten mit Interesse konkrete Angebote.“Bisher habe man nichts gesehen, außer der Idee mit allen Seiten ein neues Abkommen in einem „schönen Zimmer“zu vereinbaren, kommentierte Rjabkow ironisch Trumps Ankündigung vor ein paar Tagen.
Was Entwicklung und Produktion neuer Raketentechnologien betrifft, ist Moskau demonstrativ um ein eigenes Tempo bemüht. In einen von den USA diktierten Rüstungswettlauf wolle man sich nicht „hineinziehen lassen“, sagte Rjabkow. Gleichwohl kündigte Verteidigungsminister Sergej Schojgu die Entwicklung neuer bodengestützter Langstreckenraketen an.
Moskau bleibt hart: Russland werde weiter seine Souveränität wahren und seine nationale Interessen verfolgen, sagte Rjabkow. Würden die USA in Europa neue Atomraketen stationieren, wäre man zu einer entsprechenden Reaktion gezwungen. Für Europa bedeutet das unsichere Zeiten.
Ausgerechnet jetzt wankt auch ein anderer Pfeiler der Rüstungskontrolle: Der New-Start-Vertrag, der die Zahl der nuklearen Gefechtsköpfe auf jeweils 1550 beschränkt, wird 2021 auslaufen. Der Vertrag wurde 1991 erstmals abgeschlossen und unter den damali- gen Präsidenten Barack Obama und Dmitrij Medwedjew um zehn Jahre verlängert. Nächste Baustelle: New-Start
Rjabkow zeigt sich gestern besorgt, ob es zu einer nochmaligen Verlängerung kommen werde. Diese müsse noch heuer geklärt werden, da sich Washington 2020 angesichts der Präsidentenwahl bereits im Wahlkampfmodus befände. Da würden sowieso keine wichtigen Entscheidungen getroffen werden. Die Gespräche verliefen zäh wegen der seltenen Treffen. „Man lächelt uns freundlich an und hält uns für Panikmacher“, sagte der langjährige Diplomat gestern.
Seine US-Kollegin beurteilt die Lage anders: Die für Rüstungskontrolle zuständige Unterstaatssekretärin Andrea Thompson erklärte anderntags: „Die Verlängerung dieses Vertrags ist relativ einfach, wir haben genug Zeit dafür.“