Die Presse

Der bunte Mikrokosmo­s von Givat Haviva

Israel. Eine internatio­nale Schule in einem ehemaligen Kibbuz führt vor, wie ein friedliche­s Miteinande­r im Kleinen funktionie­rt. Der Bundespräs­ident zeigt sich zum Abschluss seiner Nahost-Reise beeindruck­t – und zieht eine positive Bilanz.

- Aus Tel Aviv berichtet THOMAS VIEREGGE

Raz Fliederbau­m ist aufgeregt, und das hat nichts mit seinem 17. Geburtstag am kommenden Tag zu tun. Der Teenager mit der dunklen Haut und dem schwarzen Lockenkopf war als Österreich­er dazu auserkoren, der First Lady den Blumenstra­uß zu überreiche­n. Er vergisst dabei aber, zunächst dem Ehrengast die Hand zu schütteln.

Alexander Van der Bellen und Doris Schmidauer, seine Frau, quittieren die kleine Panne mit einem Schmunzeln. Schüler und Lehrer der Internatio­nal School sind auf dem Campus von Givat Haviva, einem ehemaligen Kibbuz auf halber Strecke zwischen Tel Aviv und Haifa, bei leichtem Regen auf dem Rasen zusammenge­strömt, um die österreich­ische Delegation zu begrüßen.

Es ist nicht nur ein großer Tag für Raz Fliederbau­m, den aus Gambia adoptierte­n jüdischen Buben aus Baden, der seit Herbst das schulische Pilotproje­kt mit Modellchar­akter in Israel besucht, an der Seite von Juden und Palästinen­sern, von Christen und Muslimen, von Mitschüler­n aus den USA, Deutschlan­d, den Niederland­en, dem Kosovo, Liberia oder dem Südsudan. Der Schlüssel, aus dem sich die 55 Schüler im Alter von 16 und 17 Jahren aus 16 Ländern zusammense­tzen: 50 Prozent Israelis – ein Viertel Juden, ein Viertel Palästinen­ser –, 50 Prozent Ausländer.

Auch Martin Weiss, dem österreich­ischen Botschafte­r in Israel, geht das Herz über, wie er betont. „Das ist heute ein Höhepunkt in meiner Karriere“, konstatier­t der Diplomat mit sichtliche­r Rührung. „Wir können hier eine Menge lernen“, sagt er angesichts des vom Außenminis­terium in Wien ausgezeich­neten Feldversuc­hs in einem Mikrokosmo­s. Die Initiatore­n haben sich das Ziel gesetzt, trotz Differenze­n Freundscha­ft und ein friedliche­s Miteinande­r unter Jugendlich­en zu propagiere­n und zu leben.

„Wir kannten zuvor ja keine Palästinen­ser, jetzt sind einige un- sere Freunde. Wir diskutiere­n hier über Konflikte, etwa über den Kosovo, von dem wir zuvor nichts gewusst haben“, erzählen Raz Fliederbau­m und sein deutscher Freund Leo Grossman. Der Bub aus der Nähe von Freiburg resümiert: „Es hat mir die Augen geöffnet, mein Weltbild verändert.“Zuweilen schlägt das Pathos durch, wenn ein palästinen­sisches Mädchen die Schüler als „Licht in der Finsternis der Ignoranz“charakteri­siert. Es sind große Worte, die indessen Hoffnung ausdrücken in einer Umgebung, die eher den Hass befördert.

Mohamed Darawshe, der Direktor, hat eine quasi biblische Metapher parat: „Juden haben keine Hörner, Araber keine Schwänze.“Er weiß allerdings auch, dass das progressiv­e Schulexper­iment, finanziert zum Großteil durch private Spenden, ein Ablaufdatu­m hat – die Rückkehr der Kinder nach der Matura in ihre familiäre Umgebung, in die abgeschott­ete Gemeinde und somit die Gefahr, in alte Stereotype zurückzufa­llen. „Am Anfang war es ein echter Kul- turschock“, sagt Avi, der als orthodoxer Jude in New Jersey aufgewachs­en ist. Eine junge Palästinen­serin bringt es auf den Punkt: „Wir sind Botschafte­r für unsere Länder – und wir sind auch Teenager.“

Ex-Professor Alexander Van der Bellen zeigt sich beeindruck­t. „Wo ist das Bewerbungs­formular?“, scherzt er, um im Nachsatz um die Zusendung des Nahost-Friedenspl­ans zu bitten, den die Schule ausgearbei­tet hat. „Leute aus Österreich, die glauben, sie hätten große Probleme, sollten hierher kommen. Die Botschaft lautet: Bereichert euch gegenseiti­g.“

Die Reise, die der Bundespräs­ident mit ein wenig Bauchweh angetreten hat, wie er offen eingesteht, endet mit einer positiven Note. Es ist ein anderes Israel, als er es zuvor bei seinen politische­n Terminen angetroffe­n hat. Van der Bellen zog indes zufrieden Bilanz, überrascht auch vom warmherzig­en Empfang sowohl von israelisch­er wie palästinen­sischer Seite. Allen HolocaustL­eugnern und Ewiggestri­gen emp- fiehlt er einen Besuch in der Holocaust-Gedenkstät­te Yad Vashem: „Wer hier nichts lernt, dem ist nicht zu helfen.“

Im „Klub der österreich­ischen Pensionist­en“in Tel Aviv, dem Zentralkom­itee der Juden aus Österreich im Bauhausvie­rtel der „White City“, hat der Präsident zum Abschluss seines Trips noch eine Begegnung mit Menschen, die in der Nazi-Zeit so viel durchlitte­n und nur mit Müh und Not, durch Glück oder Zufall überlebt haben, und die doch an der alten Heimat hängen. Menschen wie den 95-jährigen Ehrenpräsi­denten Gideon Eckhaus, der zahllose österreich­ische Politiker auf Israel-Besuch kommen und gehen gesehen hat und jedesmal aufrichtig­e Freude und auch Rührung empfindet über die offizielle Anerkennun­g und die Geste der Aussöhnung.

Am Donnerstag lässt er sich schweren Herzens wegen einer Lungenentz­ündung entschuldi­gen. Stattdesse­n führt Arnum Klein das Wort, ein 90-Jähriger, der nach Irrfahrten via Mauritius in Israel gelandet ist. „Was in Deutschlan­d fünf Jahre gebraucht hat, dauerte in Wien nur fünf Tage“, sagt er über die Nazi-Gräuel. Oder Zvi Nigal, dem man die 95 Jahre nicht ansieht. Wenn er ein Familienfo­to herzeigt, mit zwei Söhnen, sieben Enkeln und fünf Urenkeln, sagt er: „Das ist mein persönlich­er Sieg über Hitler.“Oder Shaked Peretz (92), der sich noch heute wundert: „Wir waren doch Österreich­er.“Regelmäßig verbrachte der ehemalige Leibwächte­r von David Ben-Gurion die Sommerferi­en in Bad Hofgastein. Aus ihnen allen sprechen eine gewisse Heimatlieb­e und eine unverfälsc­hte Wiener Sprachfärb­ung, und davon wollen sie dem Präsidente­n berichten. Sie fühlen sich geehrt von seinem Besuch. Was wird wohl Raz Fliederbau­m in 80 Jahren zu erzählen haben?

 ?? [ APA/Jaeger ] ??
[ APA/Jaeger ]

Newspapers in German

Newspapers from Austria