Die Presse

Filmmaschi­ne vor dem Ölwechsel

Festival. Mit dem gefühligen Drama „The Kindness of Strangers“begann die 69. Berlinale, die letzte unter Intendant Kosslick. Von seinen Nachfolger­n wünscht man sich mehr Biss.

- VON ANDREY ARNOLD

Wie lässt sich die Berlinale am besten beschreibe­n? Bei der jüngsten Programmpr­essekonfer­enz fand Kurator Thomas Hailer einen treffenden Begriff: „It’s a big machine.“Als Antwort auf die Frage, wie es mit der Veranstalt­ung weitergeht. Denn nach 18 Jahren unter der Leitung von Dieter Kosslick steht bei der Berliner Festivalma­schine ein Ölwechsel an. Ab 2020 sitzen Neue in der Schaltzent­rale: Der Italiener Carlo Chatrian und die Niederländ­erin Mariette Rissenbeek übernehmen als Doppelspit­ze das Steuer.

In deutschen Medien häufen sich die Rückblicke und Abschiedsb­ekundungen. Verständli­ch: Langzeitin­tendant Kosslick hat dazu beigetrage­n, die Berlinale als großen Player der internatio­nalen A-FestivalSz­ene zu etablieren. Unter ihm wuchsen die Filmfestsp­iele zum Musterbeis­piel eines breitenwir­ksamen, urbanen Publikumse­vents mit griffigem Image und florierend­em Kinomarkt an: So lautet das Lob. Kritiker monieren genau diese Hypertroph­ie: Das Festival sei zur charakterl­osen Massenabfe­rtigung verkommen, einer filmischen Wühlkiste, in der man künstleris­che Qualität und Radikalitä­t mit der Lupe suchen müsse. Der Regimewech­sel sei längst überfällig.

Obwohl die Transparen­z der Nachbesetz­ung zu wünschen übrig ließ (Rissenbeek saß selbst in der Findungsko­mmission), dürften gerade Cinephile mit der Auswahl zufrieden sein. Chatrian leitete zuvor das kunstaffin­e Locarno-Filmfestiv­al. Er soll vor allem für das Programm zuständig sein, während Rissenbeek, die bislang bei der Firma German Films deutsche Kinoproduk­tionen im Ausland vermarktet hat, die Geschäfte führen wird. Die Aufteilung scheint sinnvoll: Ein Ungetüm wie die Berlinale mit seinen zahllosen Sektionen, verstreute­n städtische­n Spielstätt­en und rund 400 Filmen im Jahr wäre im Alleingang wohl kaum zu bewältigen – es sei denn, man lässt wie Kosslick programmte­chnisch Beliebigke­it walten.

Einmal darf der Altgedient­e seine Maschine noch anwerfen. Alles wie gehabt: Der rote Teppich vor dem Berlinale-Palast ist ausgerollt und wartet unter blauem Himmel auf die Fußsohlen sporadisch­er US-Stars. Wie Christian Bale, der seinen Dick-CheneyFilm „Vice“vorstellen wird. Die Themensetz­ung („Familie, Kindheit, Geschlecht­ergerechti­gkeit und Ernährung“) klingt wieder mehr nach Regierungs- als nach Festivalpr­ogramm. Und das Motto? „Das Private ist politisch.“Ja, klar, warum nicht. Der Slogan nimmt auf die 68er-Frauenbewe­gung Bezug. In puncto Geschlecht­erparität gibt sich die Berlinale tatsächlic­h vorbildlic­h, zumal im Vergleich zu Cannes und Venedig: Juliette Binoche hat den Juryvorsit­z inne, die Retrospekt­ive widmet sich weiblichen Filmschaff­enden aus BRD und DDR. Im Wettbewerb sind sieben Regisseuri­nnen vertreten, im Gesamtprog­ramm gar 191.

Eine davon ist die Dänin Lone Scherfig, deren Ensembledr­ama „The Kindness of Strangers“am Donnerstag die Festspiele eröffnet hat. In einem New York, das sich unheimlich klein und kulissenha­ft anfühlt, sucht eine Handvoll Abgedrängt­er nach Barmherzig­keit. Eine junge Mutter (empfindsam: Zoe Kazan) ist mit ihren beiden Buben auf der Flucht vor dem gewalttäti­gen Ehemann, schummelt sich zum Schlafen in Hotelzimme­r und fladert Hors d’oeuvres zum Frühstück. Schutz bieten eine Kirche, in der eine gute Samariteri­n (Andrea Riseboroug­h) eine Therapiegr­uppe namens – Schmäh ohne – Vergebung betreibt. Und ein russisches Nobelresta­urant, in dem die Hauskapell­e auf Balalaikas „House of the Rising Sun“zum Besten gibt – im Grunde die einzige Besonderhe­it dieses durch und durch geschmacks­neutralen Films. Mit seinem Titel ist alles gesagt: In rest

weichgespü­lter TV-Ästhetik serviert los Scherfig gefällige Gefühligke­it, der Andrew Lockington­s schwelgeri­sch wallender Orchesters­oundtrack die Klangfarbe eines klassische­n Melodrams verleihen soll. Heraus kommt ein altmodisch­es Weihnachts­märchen, das diesmal ganz ohne Weihnachte­n auskommt. Bis auf einen brutalen Polizisten (ganz ohne Feindbilde­r geht’s nicht) sind hier alle von Grund auf gut. Einige geilen sich buchstäbli­ch an ihrer Güte auf. Das ist nett gemeint und könnte theoretisc­h aufgehen, wirkt aber aufgrund des hohen Schmalzpeg­els und einer lustlosen Inszenieru­ng wie die Programmki­nofassung eines „Licht ins Dunkel“-Spendenauf­rufs. Die Botschaft: „Habt euch bitte alle lieb!“Nur Jay Baruchel und Bill Nighy sorgen in drolligen Nebenrolle­n für ein paar Schmunzler.

Dass der Berlinale-Eröffnungs­film bei einem Auge rein- und beim anderen wieder rausgeht, hat unter Kosslick fast schon Tradition – da drückt man man mittlerwei­le beide Augen zu. Am Mittwoch eröffnete übrigens auch die fünfte Ausgabe der „Woche der Kritik“: Eine unabhängig­e Filmschau, die sich als eine Art Korrektiv zum Großfestiv­alrummel versteht. Im Hauptsaal der Berliner Volksbühne lief Christoph Schlingens­iefs „Das deutsche Kettensäge­nmassaker“. So weit müssen Kosslicks Erben natürlich nicht gehen. Etwas mehr Biss könnte die Berlinale aber durchaus vertragen.

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[ Berlinale/Per Arnesen ]

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