Der blinde Fleck auf der Netzhaut
Gut, Graz kommt recht oft vor. Aber wichtiger: Neue Welten gehen in den Erzählungen von Clemens J. Setz auf. Selbst die Fragen werden hier zu Parabeln des Schreibens. Kafka revisited.
Nicht alle Geschichten des vorliegenden Bandes spielen in Graz. Aber selbst die wenigen, die es nicht tun, vermitteln den Anschein, dass etwas von ihrem Ausgangspunkt zäh an ihnen klebt. Eine Art Sehnsucht, dorthin zurückzukehren, woher man kommt. In der Erzählung „Kvaløya“(benannt nach der fünftgrößten Insel Norwegens) hat Clemens J. Setz für dieses Gefühl ein Fabelwesen geschaffen.
Es ist nicht leicht, mit einem solchen Gefährten, genannt Or, zu verreisen, beklagt der Ich-Erzähler. Ständig rückt ihm das Bündel auf die Pelle, kuschelt, winselt, jammert und hat Heimweh, nur um im nächsten Augenblick gleich wieder davonzurennen. Ein Or will gefüttert, gepflegt und gewandet werden. Kaum hat man es angezogen, „assimiliert“es den Schal, und man muss einen zweiten um ihn wickeln. Wie soll man sich so ein Tierchen vorstellen? Wie eine Kreuzung zwischen einem Tamagotchi und einem Kleinkind? Die Frage bleibt offen.
Auch von dem Apparat, in dem in einer anderen Erzählung des Bandes ein Kind namens Daniel steckt, macht uns der Autor kein genaues Bild. Nur indirekt erfahren wir, dass es eine Maschine mit verstörendem Aussehen sein muss. In einem zunächst von großer Scham getragenen, dann aber immer härter werdenden Gespräch eröffnet der Vater eines Schulkameraden in diesem Text der Direktorin, dass er den Kauf des Klassenfotos stornieren will. Eben weil auf diesem Bild Ungeheuerliches zu sehen ist: Daniel in seinem Lebenskasten. „Er interagiert“, sagt die Direktorin, „man kann mit ihm arbeiten. Er nimmt am Leben teil, auf seine Weise.“Darauf der Mann: „Das tut ein Hydrant auch!“
Ob es Hydranten oder Menschen sind, technische Geräte oder Lebewesen, ist in vielen der insgesamt zwanzig Erzählungen nicht von vorneherein ausgemacht. Auch dem „Trost runder Dinge“, den der Titel der Sammlung verspricht, ist nicht zu trauen. Viele der beschriebenen Figuren sind von einer allumfassenden Angst getrieben. Nicht an einer Untersuchung von deren Ursachen, sondern der Entfaltung ihrer Wirkung ist der Autor interessiert.
Herr Zweigl beispielsweise aus der Erzählung „Geteiltes Leid“, die mit knapp 50 Seiten die längste des Bandes ist, hat gelernt, mit seiner Angst umzugehen. Massenschlägereien von Terence Hill und Bud Spencer, Menschen, die in Weinsprache miteinander reden, die hasenartige Schnauze eines Kängurus, das Verbrennen von Geld, der Anblick von Auberginen und Tomaten wie überhaupt runde Sachen helfen ihm dabei, sie zu bekämpfen. Je besser ihm das gelingt, desto stärker aber pflanzt sich die Angst in seinen Söhnen auf. Rein regional gesehen befinden wir uns mit dem „Trost runder Dinge“genau dort, wohin uns Clemens Setz schon mit seinem großen Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“(2017) geführt hat. An einer Peripherie, die sich selbst für ein Zentrum hält und vielleicht gerade deshalb wirklich eines ist. In der Heimatstadt des Autors: Graz.
In der ersten Erzählung versucht der Ich-Erzähler, der ein Autor ist und zu einem Literaturfestival ins kanadische Banff eingeladen wurde, rauszukommen und wegzufliegen. Aber er schafft es nicht, weil keine Flüge mehr gehen. Als er in die Wohnung zurückkommt, stapeln und räkeln sich dort Unmengen von Männern. Es schaut aus wie in einem Lazarett. Seine Freundin Marianne kümmert sich liebevoll um die Beschwerten, ohne seine Rückkehr zu beachten.
In solchen Geschichten kehrt Ilse Aichinger wieder, man vergleiche nur deren Erzählung „Wo ich wohne“. In anderen Texten des Bandes krümmt sich die spezifische Zeitgenossenschaft von Clemens Setz zu Franz Kafka zurück. Odradek und Or sind eng verwandt und repräsentieren, ein jedes dieser beiden unfassbaren Wesen für sich entstehen im „Trost der runden Dinge“durchaus noch in den Mitteln und im Zitat der klassischen Moderne. Allerdings tritt etwas hinzu: nämlich ein unmittelbarer Zugriff auf Phänomene der Krankhaftigkeit, den Clemens J. Setz wohl auch von seinen amerikanischen Vorbildern, Philip K. Dick und Steven King, nimmt. So sprechen seine Geschichten es selbst aus: Ihre Figuren sind „krank“oder „geisteskrank“.
Aus kranken Figuren bauen sich kranke Geschichten. Frau Triegler beispielsweise, eine soeben entlassene Schulärztin, macht in einer Erzählung, die ihren Namen als Titel trägt, einem Schüler vor, dass etwas Schwerwiegendes mit seiner Mutter passiert sei, nimmt den jungen Mann mit sich nach Hause und führt ihn an seiner emotionalen Abhängigkeit wie an einem Nasenring herum. Eine andere Frau namens Annemarie, die ihren behinderten Sohn pflegt, will Callboys dazu bringen, mit ihr direkt vor ihm sexuell zu verkehren. Ein gewisser Marcel hinterlässt in einer anderen Story auf der Toilette eines Nachtlokals seine Telefonnummer unter Hinzufügung des Namens Suzy. Gegenüber Anrufern gibt er sich als deren Sohn aus und erzählt ihnen rührselige Geschichten. Manche Leute rufen öfters an.
In den Erzählungen, in denen das Alter Ego des Autors hervortritt, herrscht Selbstironie. Eine dieser Geschichten mit dem wunderbaren Titel „Die Katze wohnt im Lalande’schen Himmel“erzählt von einem Schriftsteller, der plötzlich einen blinden Fleck auf der Netzhaut hat. Eine an sich unspektakuläre Sache, die aber dazu führt, dass er sich fortan nur noch mit dem Maler Bernhard Henri Conradin beschäftigt. Am Ende ist nicht einmal mehr der Nachthimmel, was er früher war, denn an ihm zeigt sich, alles an sich reißend, ein neues Sternbild: der große Bursche.
Fragen von Sehen oder Nicht-Sehen, Sagen oder Nicht-Sagen spielen im gesamten Band, speziell aber auch in „Otter Otter Otter“, eine entscheidende Rolle. Ein junger Mann, der als Pedell (Gibt es diese Berufsbezeichnung überhaupt noch?) in einer Schule und, weil das Einkommen nicht reicht, auch in einer Bar arbeitet, lernt eine blinde Frau kennen. Wird von ihr in die Wohnung eingeladen und bemerkt dort, dass der gesamte Raum mit perversen Sprüchen vollgekritzelt ist. Das dreimal wiederholte Wort „Otter“ist die einzige harmlose Inschrift.
Soll man der Blinden sagen, was man sieht? Weiß sie es selbst? Ist alles nur eine Prüfung der eigenen Aufrichtigkeit? Oder würde man ihr damit den Raum, den außer ihr vielleicht wirklich niemand betritt, unmöglich machen? In den Geschichten von Clemens Setz werden keine Antworten gegeben – aber die Fragen selbst zu Parabeln des Schreibens. Wenn es möglich wäre: Man machte beim Lesen die Augen zu und vertraute sich diesen Geschichten vorbehaltlos an. Ganz so, als würde man mit ihnen gemeinsam auf einem Tandem sitzen