Spielarten des Irrsinns in der Oper
Laurent Pelly hat für das Wiener Haus „Lucia di Lammermoor“neu inszeniert, in tristem Grau, aber so, dass sich auch im Repertoire die Sänger zurechtfinden werden, um ihre jeweils eigenen Belcantokünste zu demonstrieren.
Die neue „Lucia di Lammermoor“in der Wiener Staatsoper.
Am vergangenen Samstag sang Edita Gruberova die Lucia di Lammermoor – in Budapest. Das Zusammentreffen mit der Premiere der Neuinszenierung von Donizettis „Dramma tragico“an der Wiener Staatsoper darf als Treppenwitz der Interpretationsgeschichte gewertet werden. Denn die Wiener Premiere dieser Oper von 1978 stand am Beginn des Siegeszuges der Pressburger Primadonna. Sie verabschiedet sich nun von ihrem Publikum in der nämlichen Partie – ein wenig weiter östlich.
Die Zeit bleibt nicht stehen. Die Wiener Lucia heißt nun Olga Peretyatko. Sie repräsentiert nicht nur die neue Generation einer internationalen Sängerelite (Lucia war sie zuletzt 2018 an der Met), sondern einen völlig anderen Zugang zu ihrer heiklen Aufgabe. Dieser hat wiederum weniger mit der Generationenfrage zu tun als mit den vokalen Möglichkeiten, die sozusagen auf natürliche Weise die Perspektive einer Interpretation bestimmen.
Von Peretyatko sind brillante Effekte und Wahnsinnstöne in der Region jenseits des hohen Cs nicht zu erwarten. Der Sopran spricht im allerhöchsten Register keineswegs mühelos an; und fordert auch im unteren Passaggio-Bereich einige technische Mühewaltung: Die Tiefe wirkt imposant, aber nicht nahtlos ans mittlere Register angebunden. Das macht es nicht leichter, eine Grenzpartie zu bewältigen, heißt aber nicht, dass Peretyatko die Partie nicht singen kann.
Im Gegenteil liefert sie ein minuziös differenziertes Charakterporträt der Lucia. Ihrer Lucia. Sie vermittelt von Gnaden der Regie Laurent Pellys inmitten Chantal Thomas’ vergletschert-karger, von Grautönen beherrschter Bühnentristesse eine mädchenhaft-zarte Frauenfigur, die zerbricht und irre wird an ihrer Liebe, die des Bruders politische Ränkespiele zunichte machen.
Dokument des seelischen Verfalls
Diesen Verfallsprozess macht Peretyatko nicht nur schauspielerisch, sondern vor allem auch vokal erlebbar, versteht sie es doch, ihre Stimme koloristisch virtuos changieren zu lassen – so gewinnt etwa der jähe Stimmungsumschwung im Dialog mit Raimondo gespenstisch-irreale Dimensionen. Zwar ist es schwer, den mit eminentem Gefühl für die Belcantolinie vorgetragenen Reden Jongmin Parks, eines veritablen „Basso cantante“, zu widerstehen. Doch die plötzliche Zustimmung Lucias zur Hochzeit mit dem ungeliebten Arturo wirkt so unberechenbar-überraschend wie zuletzt die erschreckenden Volten der Wahnsinnsszene – während der nicht nur die panischen Reaktionen des exzellent singenden, durchwegs starr und puppenhaft geführten Chors, sondern auch das atemlose lauschende Publikum jene nervöse Gespanntheit verraten, die große Opernmomente auszeichnen.
Wer da widerspricht, beweist nur, dass ihm offenbar jegliche Tiefendimension erfüllten Musiktheaters verschlossen bleibt – und lässt ahnen, dass er das Abliefern hoher Töne mit Interpretation verwechselt.
Dass Peretyatko den Spitzenton am Ende ihres introvertierten Irrsinnstrips nicht singen würde, war wohl nach ihrer Auftrittsarie klar, in der sie über das von Donizetti geforderte hohe C nicht hinausging – weder die dort oft gesungenen Ds, noch das „Wahnsinns“-Es stehen in der Partitur . . .
Dergleichen Einlagen sind im Belcanto keineswegs zwingend, doch sind sie üblich – und möglich, wie George Petean als böser Bruder Enrico beweist, der in diesem Metier zwar ein wenig verloren wirkt, jedenfalls nicht ganz so souverän wie bei Verdi, aber doch im Duett mit seinem Hassobjekt, Lucias Liebhaber Edgardo, nicht klein beigeben muss, wenn der seine tenoralen Höhenflüge antritt. Im Turmbild, das die letzte Inszenierung in einem erstaunlichen, den „internationalen Gepflogenheiten“gehorchenden Abschuppungsprozess bald nach der Premiere verloren hat, treffen die beiden Widersacher nun wieder aufeinander. Und sie bestätigen einander ihre Feindschaft, indem sie eines Sinnes auf dem hohen A beharren.
Der Bariton hat damit seine Effektobergrenze erreicht, Juan Diego Florez´ als Edgar will und darf aber natürlich noch viel höher hinaus. Die wohl sicherste Belcantostimme unserer Zeit fühlt sich im heldischeren Genre nun schon richtig wohl, verfügt noch über die Agilität für jegliche liebevolle Zweiunddreißigstel-Ondulierung in den zärtlichen Dialogen mit Lucia, aber auch über die Attacke, die nötig ist, um eine versammelte Hochzeitsgesellschaft in die Schranken zu weisen; samt dem achtbaren tenoralen Nebenbuhler Arturo (Lukhanyo Moyake) und Lucias gouvernantenhafter, aber respektgebietend tönender Alisa (Virginie Verrez).
Der „Belcanto-Maestro assoluto“
Im darauffolgenden Sextett durfte, ungewöhnlich genug anlässlich einer Belcantopremiere, wieder einmal das Wiener Orchester zum eigentlichen Star des Abends werden – denn am Pult waltete mit Evelino Pido` der ideale Belcantomeister, der die Instrumentalisten für Nuancen ihrer Stimmen zu begeistern weiß, die diese zuvor noch nie darin entdeckt hatten. Allein die beiden Cello-Soli, die Florez’´ Final-Arie subtil zum Terzett ergänzten, wären eine Reise wert gewesen. Und wie Flöte und Klarinette die außerirdische Klangsinnlichkeit der Glasharmonika aufzunehmen wussten, die Lucias Visionen hörbar macht, das war ein Ereignis.
Eines von vielen an diesem Abend, die Pido` mit der ihm eigenen, offenbar ansteckenden Begeisterung meisterlich zum musiktheatralischen Ganzen zu binden wusste. Erlebt man einen solchen Dirigenten, weiß man um die Bedeutung der an italienischen Häusern für seinen Beruf üblichen Bezeichnung: Maestro concertatore e direttore d’orchestra. Dass in besagtem Sextett keiner die Führung zu übernehmen trachtete, sondern alle miteinander in einem kollektiven Atemzug Donizettis Melodie strömen ließen, war symptomatisch für diesen Abend, der groß war für alle, die nicht gekommen waren, um Töne zu hören, sondern – Musik.