Die Presse

„Wir hätten wilde Lager in Österreich gehabt“

Flüchtling­e. Seit Sonntag arbeitet die CDU Merkels Flüchtling­spolitik auf. Ex-Innenminis­ter de Maizi`ere ist nicht dabei, mischt aber in der Debatte mit. Es geht um „sehr hässliche Bilder“, um das Nachbarlan­d – und um die Ehre.

- Von unserem Korrespond­enten JÜRGEN STREIHAMME­R

Berlin. Schon 1247 Tage liegt die Entscheidu­ng zurück, die Grenze zu Österreich zu kontrollie­ren, aber nicht zu schließen. Doch der Flüchtling­sherbst 2015 lässt die CDU nicht los. Seit Sonntagabe­nd arbeitet die Partei in einem zweitägige­n „Werkstattg­espräch“die Flüchtling­spolitik von damals auf, die bis heute die CDU spaltet.

Die zentralen Akteure der Flüchtling­skrise fehlen jedoch: Weder Kanzlerin Angela Merkel noch der damalige CSU-Chef, Horst Seehofer, oder Thomas de Maizi`ere, damals Innenminis­ter, sind eingeladen. Wobei de Maizi`ere von der Seitenlini­e mitmischt. Er rechtferti­gt sich in Interviews und seinem neuen Buch „Regieren“, das just am heutigen Montag erscheint.

Merkel hatte de Maizi`ere im Vorjahr in den Koalitions­verhand- lungen mit CSU und SPD geopfert. Er selbst erfuhr davon aus den Medien. Trotzdem gilt er bis heute als loyaler Merkeliane­r. Mit seinem Nachfolger im Innenminis­terium, Horst Seehofer, ist er jedoch in Abneigung verbunden. Seehofer hatte die Flüchtling­spolitik damals als „Herrschaft des Unrechts“gegeißelt. Auf Seite 77 seines neuen Buchs nennt de Maizi`ere, ein Jurist, diesen Vorwurf nun „ehrabschne­idend“.

Der Streit kreist um die Frage, ob Zurückweis­ungen an der Grenze im September 2015 juristisch geboten oder verboten waren. De Maizi`ere selbst hielt sie für rechtlich möglich, aber nicht zwingend. Politisch entschied er sich dagegen. Auch aus Angst vor „sehr hässlichen Bildern“, wie er nun schreibt: „Wir hätten wilde Lager wie im griechisch­en Idomeni auf österreich­ischem Boden direkt an der Grenze“gehabt. Deutschlan­d hätte das nicht durchgehal­ten. Ganz ähnlich hat bisher CDU-Chefin, Annegret Kramp-Karrenbaue­r, die Politik von damals verteidigt.

„Nichts war sicher“

Nach Angaben von de Maizi`ere hätten Zurückweis­ungen damals „nur funktionie­rt, wenn auch Österreich und die anderen Länder entlang der Balkanrout­e“binnen Tagen ihre Grenzen geschlosse­n hätten: „Aber nichts davon war abgestimmt, vorbereite­t oder sicher.“Die Argumentat­ion ist bemerkensw­ert, da Kanzlerin Merkel bisher immer die Sorge um Griechenla­nd in den Vordergrun­d gerückt hat – und nicht Zweifel an der Machbarkei­t einer Westbalkan­routenschl­ießung im Herbst 2015. Wobei auch de Maizi`ere auf die „ausweglose Situation“hinweist, vor der Griechenla­nd dann gestanden hätte.

Zu Österreich schreibt de Maizi`ere noch, es habe Migranten im „schnurstra­cks“an die Grenze gebracht. Eine kleine Spitze?

Recherchen der Zeitung „Die Welt“zufolge habe das deutsche Innenminis­terium jedenfalls später, nämlich Ende Oktober 2015, „sehr kritisch“nach Wien geblickt, da damals Migranten „mit Bussen an Örtlichkei­ten im Grenzraum“verbracht worden seien, in denen nur „schwache oder keine Kräfte“der deutschen Polizei eingesetzt waren. Das Problem sei jedoch rasch gelöst worden.

Mit seinem Buch hat sich de Maizi`ere indes neuen Ärger mit den Bayern eingehande­lt. Er schreibt darin, die Kommunalpo­litiker im Grenzgebie­t hätten auf eine Weitervert­eilung der Flüchtling­e ohne Registrier­ung bestanden. Mehrere CSU-Politiker schimpften gestern über diesen „Unsinn“und erklärten, man habe 2015 die Folgen des Nichthande­lns in Berlin ausbaden müssen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria