Die Presse

Macht der Ton die Musik, oder doch der Gesang?

Vielleicht kommt es in der Oper doch nicht auf Einzeltöne an, sondern darauf, wie man sie miteinande­r verbindet. Über Stilfragen wechseln die Ansichten von Logenrang zu Logenrang.

- E-Mails an: wilhelm.sinkovicz@diepresse.com ZWISCHEN TÖNE

Da kann ein Tenor „Ah s`ı, ben mio“noch so schön gesungen haben, wenn er dreieinhal­b Minuten später am Ende der „Stretta“das hohe C nicht singt, ist das Publikum enttäuscht. Vielleicht macht es sogar seinem Ärger Luft und protestier­t. Nicht nur im sagenhafte­n „Trovatore“, sondern etwa auch nach der Soloszene Alfredos in der „Traviata“.

Die Loggionist­i der Mailänder Scala riefen „Buh“, als der Tenor anlässlich ihrer Saisoneröf­fnung vor einigen Jahren diesen Teil der Oper sang, wie Verdi ihn geschriebe­n hat – also ohne hohes C. Da ging es immerhin um einen Auftritt Piotr Beczałas – einer der mittlerwei­le recht zahlreiche­n großen Sänger, die es vorziehen, aufgrund dieser „Behandlung“in Mailand nicht mehr aufzutrete­n.

Selbst die „Unantastba­re“, Anna Netrebko, kann ein Lied davon singen, wie das ist, wenn einmal ein solcher Spitzenton, der eigentlich eine freiwillig­e Zugabe des Sängers darstellt, schiefgeht. Anlässlich ihres Comebacks nach der Babypause an der New Yorker Met versuchte sie am Ende der Wahnsinnss­zene der „Lucia di Lammermoor“das hohe Es – der Livemitsch­nitt des Missgeschi­cks, das dabei passierte, stand wenige Minuten später im Internet . . .

Dem Ruhm einer Diva schadet dergleiche­n nicht. Und die Netrebko wird sich ihren Teil gedacht haben, als sie als Zaungast der samstäglic­hen Donizetti-Premiere an der Staatsoper miterlebte, wie ein „Kenner“oppo- nierte, nachdem ihre Kollegin Olga Peretyatko den inkriminie­rten Spitzenton erst gar nicht probierte.

Er steht so wenig in der Partitur wie das hohe H am Ende der Canzonetta des Herzogs im „Rigoletto“, das Riccardo Muti einst unter Protest der Fans dem wahrlich höhensiche­ren Franco Bonisolli verwehrte.

Was Partitur-Treue betrifft, ist der aktuelle Maestro am Ring, Evelino Pid`o, ja mindestens so streng wie Muti. Aber er weiß mit Traditione­n umzugehen und zwingt einen Tenor wie Juan Diego Florez,´ der sich auch jenseits des hohen Cs sicher und virtuos bewegt, nicht zu Reduktions­maßnahmen – nicht bei Donizetti jedenfalls, dessen Notentext man so oder so auslegen darf. Manchmal hilft es ja doch, wenn einer wirklich Bescheid weiß . . .

 ??  ?? VON WILHELM SINKOVICZ
VON WILHELM SINKOVICZ

Newspapers in German

Newspapers from Austria