Macht der Ton die Musik, oder doch der Gesang?
Vielleicht kommt es in der Oper doch nicht auf Einzeltöne an, sondern darauf, wie man sie miteinander verbindet. Über Stilfragen wechseln die Ansichten von Logenrang zu Logenrang.
Da kann ein Tenor „Ah s`ı, ben mio“noch so schön gesungen haben, wenn er dreieinhalb Minuten später am Ende der „Stretta“das hohe C nicht singt, ist das Publikum enttäuscht. Vielleicht macht es sogar seinem Ärger Luft und protestiert. Nicht nur im sagenhaften „Trovatore“, sondern etwa auch nach der Soloszene Alfredos in der „Traviata“.
Die Loggionisti der Mailänder Scala riefen „Buh“, als der Tenor anlässlich ihrer Saisoneröffnung vor einigen Jahren diesen Teil der Oper sang, wie Verdi ihn geschrieben hat – also ohne hohes C. Da ging es immerhin um einen Auftritt Piotr Beczałas – einer der mittlerweile recht zahlreichen großen Sänger, die es vorziehen, aufgrund dieser „Behandlung“in Mailand nicht mehr aufzutreten.
Selbst die „Unantastbare“, Anna Netrebko, kann ein Lied davon singen, wie das ist, wenn einmal ein solcher Spitzenton, der eigentlich eine freiwillige Zugabe des Sängers darstellt, schiefgeht. Anlässlich ihres Comebacks nach der Babypause an der New Yorker Met versuchte sie am Ende der Wahnsinnsszene der „Lucia di Lammermoor“das hohe Es – der Livemitschnitt des Missgeschicks, das dabei passierte, stand wenige Minuten später im Internet . . .
Dem Ruhm einer Diva schadet dergleichen nicht. Und die Netrebko wird sich ihren Teil gedacht haben, als sie als Zaungast der samstäglichen Donizetti-Premiere an der Staatsoper miterlebte, wie ein „Kenner“oppo- nierte, nachdem ihre Kollegin Olga Peretyatko den inkriminierten Spitzenton erst gar nicht probierte.
Er steht so wenig in der Partitur wie das hohe H am Ende der Canzonetta des Herzogs im „Rigoletto“, das Riccardo Muti einst unter Protest der Fans dem wahrlich höhensicheren Franco Bonisolli verwehrte.
Was Partitur-Treue betrifft, ist der aktuelle Maestro am Ring, Evelino Pid`o, ja mindestens so streng wie Muti. Aber er weiß mit Traditionen umzugehen und zwingt einen Tenor wie Juan Diego Florez,´ der sich auch jenseits des hohen Cs sicher und virtuos bewegt, nicht zu Reduktionsmaßnahmen – nicht bei Donizetti jedenfalls, dessen Notentext man so oder so auslegen darf. Manchmal hilft es ja doch, wenn einer wirklich Bescheid weiß . . .