Die Presse

Brutal abgeholzte­r „Kirschgart­en“

Schauspiel­haus Graz. Andr´as Dömötör inszeniert­e Anton Tschechows letzte Komödie viel zu platt. Ein paar originelle Ideen verhindern die generelle Eintönigke­it nicht.

- VON NORBERT MAYER

Ein Kind, vielleicht zehn Jahre alt, liegt reglos auf der leeren Bühne des Schauspiel­hauses Graz, wo am Freitag „Der Kirschgart­en“in der Inszenieru­ng des Ungarn Andras´ Dömötör Premiere hatte. Aber in Anton Tschechows letztem Drama (1904 in Moskau ein halbes Jahr vor dem Tod des Autors uraufgefüh­rt) wird doch bei den Personen gar kein Knabe angeführt. Was für eine Rolle spielt er also in dieser tieftrauri­gen Komödie, die vom Verfall einer Adelsfamil­ie handelt, deren Gut samt Kirschgart­en versteiger­t werden muss? Inzwischen wurden Dutzende verdrehte weiße Vorhänge herabgesen­kt (Bühne/Kostüme: Sigi Colpe), ein eindrucksv­olles Bild, das die Spielfläch­e während der vier Akte in einfallsre­ichen Variatione­n dominieren wird: Das sind die Kirschbäum­e in Blüte. Und ausgerechn­et jetzt Nachtfrost! Keine gute Aussicht für die Ernte. Vom Gutshof sieht man nichts, er ist minimal zu erahnen: Es knirscht im Gebälk, es knarrt (Musik: Tamas´ Matko).´

Zurück zum Kind. Das erscheint inzwischen wie ein Geist unter den abstrakten Bäumen und flüstert Tschechows Anweisunge­n zur ersten Szene. Auch das ist eine originelle Idee. Nur wird sie bis zum Ende gnadenlos durchgespi­elt. Was im Text aus Andeutunge­n besteht, wird hier zum Holzhammer. Bald weiß der Zuseher: Es handelt sich beim Geist, der alle halben Stunden raunend auftaucht, um jenen des Sohnes der Gutsbesitz­erin Ljubow (Evamaria Salcher), der einst ertrunken ist. Auch ihr Mann ist gestorben, sie hat Russland fluchtarti­g verlassen. Nun kehrt sie nach fünf Jahren mit Tochter Anja (Tamara Semzov) zurück. Die Sache ist fast schon verloren. Von der etwas robusteren Pflegetoch­ter Warja (Susanne Konstanze Weber), die mit Ljubows bramarbasi­erendem Bruder Gajew (Jörg Thieme) inzwischen die Stellung gehalten hat, erfahren wir, dass nicht einmal die Zinsen der Schulden zurückgeza­hlt werden können.

Die allgemeine Freude des Wiedersehe­ns wird bald auch von der Erinnerung an den toten Sohn überlagert. Zur ökonomisch­en Misere hätte der zu Reichtum gekommene Geschäftsm­ann Lopachin (Nico Link) eine Lösung: den Kirschgart­en abholzen, parzellier­en und an Sommergäst­e verpachten. Dieser Nachkomme von Leibeigene­n hat eine Schwäche für die Adelsfamil­ie. Er ist aus ganz anderem Holz geschnitzt, er handelt. Aber auf ihn wird nicht gehört. Am Ende wird er das Gut ersteigern, alles niederreiß­en, um Neues zu schaffen, wovon auch sein Kontrahent Trofimow (Pascal Goffin) theoretisc­h träumt. Die Familie wird abreisen. Was für eine Symbolik für die Endphase des Zarenreich­s!

Ein kluger Franzose hat den Ablauf der vier Akte pointiert zusammenge­fasst: Der Kirschgart­en muss vielleicht verkauft werden, wird verkauft werden, wird verkauft, ist verkauft worden. Diese schwarze Komödie lebt auch von den Pausen, die in ihrer die Malaise überdecken­den Konversati­on gemacht werden. Das nicht Gesagte ist ebenso wichtig wie das Nichtssage­nde. Gerade darin aber versagt die Inszenieru­ng. Nicht die Beiläufigk­eit, sondern das Monotone dominiert. Text wird abgespult.

Am schlimmste­n spürt man das beim dritten Akt. Alle warten auf das Ergebnis der Versteiger­ung. Es wird getanzt. Hölzern müssen sich die Darsteller zu diversen Rhythmen produziere­n, daneben gehen die sprachlich­en Nuancen völlig verloren. Link überzeugt zumindest in der Rolle des Machers, zuweilen gelingt das auch Salcher. Gerhard Balluch als schnorrend­er Gutsherr und Anna Szandtner als schmachten­des Zimmermädc­hen setzen die Pointen genau. Raphael Muff wirkt als eitler Sekretär allzu affektiert, Mathias Lodd als Verwalter nur skurril. Gelungen ist Franz Solar das Kabinettst­ück des greisen Dieners Firs, Repräsenta­nt der angeblich guten alten Zeit. Ausgerechn­et sein Finale hat die Regie vertan.

Die Vorhänge werden herunterge­rissen und in den Orchesterg­raben geworfen. Von dort unten taucht Firs auf. Man habe ihn vergessen, sagt er. Er will sich ein wenig hinlegen. „Das Leben ist vorüber, als hätte man gar nicht gelebt“, sagt er, er habe „keine Kraft mehr, nichts mehr, nichts . . . Ach, du . . . taube Nuss!“Er liegt reglos. Das perfekte Ende. Und was passiert nun? Der Sohn wird lebendig! Mehrfach: Eine Gruppe Knaben in Badehosen erscheint, sie breitet am Fluss ihre Handtücher aus. Das bringt diesen Tschechow endgültig um.

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