Die fünf Irrtümer der Globalisierung
Wirtschaft. Zerstören Handelskriege, Brexit und nationalistische Populisten die Globalisierung? Forscher legen die detaillierteste Vermessung der vernetzten Welt seit Trump vor – und liefern unerwartete Daten.
Amsterdam. Die Globalisierung ist in Lebensgefahr. So lautete die Zustandsbeschreibung durch Ökonomen, als Donald Trump die USA 2016 in den großen Handelskrieg geführt und die Briten den Ausstieg aus der EU beschlossen hatten. Und auch heute gibt es dafür noch genug Indizien: Anfang März wartet die nächste Stufe im Handelskrieg zwischen Washington und Peking, ein paar Wochen danach droht der Chaos-Brexit. Haben sich die düsteren Prophezeiungen also bewahrheitet? Wie steht es wirklich um den Wohlstandsbringer Globalisierung?
Das haben sich die Ökonomen der New York University Stern School of Business näher angesehen. Sie trugen drei Millionen Datensätze aus 169 Ländern zusammen und formten daraus den „Global Connectedness Index“, die detaillierteste Vermessung der vernetzten Welt. Die Daten darin erzählen eine überraschende Geschichte und räumen mit folgenden populären Irrtümern auf:
1 Nationalistische Schutzzölle zerstören die Globalisierung.
Glaubt man den Statistiken, erlebte die Welt 2017 ihren bisherigen Höhepunkt der internationalen Vernetzung. Erstmals seit 2007 wanderte wieder in allen vier Kategorien (Waren, Kapital, Daten und Menschen) mehr über die Ländergrenzen als im Jahr zuvor. Das Wachstum war robust, die großen Handelskonflikte meist noch reine Rhetorik. Der Warenverkehr entwickelte sich so gut wie zuletzt vor acht Jahren. Das größte Wachstum gab es aber im Bereich des globalen Datenverkehrs. 2018 kam es durch den Ausbau von Schutzzöllen zwar zu einem Dämpfer. Der Handel wuchs aber dennoch, wenn auch langsamer. Daran dürfte sich auch 2019 wenig ändern, sagt Studienautor Steven A. Altman zur „Presse“. „Die Fundamente der Globalisierung sind intakt.“
2 Die nähere Umgebung ist nicht mehr so wichtig, nur mehr der globale Markt zählt.
Sowohl Fans als auch Feinde der Globalisierung unterliegen derselben Täuschung: Die Welt ist bei Weitem nicht so vernetzt, wie es auf Anti-TTIP-Demos oder in Exportwerbeseminaren oft heißt. Nur eines von tausend Unternehmen weltweit ist international aktiv. Vier von fünf Euro des globalen BIPs werden innerhalb der jeweiligen Landesgrenzen verdient. Erst sieben Prozent aller Telefonate werden international getätigt. 97 Prozent aller Menschen leben in ihren Geburtsländern.
3 Die Vereinigten Staaten sind international besonders eng vernetzt.
Amerikas Selbstbild schwankt vom großen Profiteur zum großen Opfer der Globalisierung. Wahr ist hingegen: Das Land ist gar nicht so stark vernetzt – und damit auch bei Weitem nicht so bedroht vom Freihandel –, wie oft suggeriert wird. Während Amerikas Kapital und Daten in immer stärkerem Ausmaß über die Grenzen fließen, importiert das Land im Verhältnis zu anderen Staaten auffallend wenig Produkte. Gemessen an der Wirtschaftsleistung führen die USA weniger Waren ein als die meisten anderen Staaten (Platz 100). Im Jahr 2017 machten die Importe 15 Prozent des BIPs aus. Selbst China kam auf 19 Prozent seiner Wirtschaftsleistung. In Summe landen die USA auf dem 30. Platz des GCI. An der Spitze stehen die Niederlande. Österreich liegt auf Platz 19.
4 Im Konflikt zwischen China und den USA steht die Globalisierung auf dem Spiel.
Die anhaltenden Spannungen zwischen den beiden Wirtschaftssupermächten USA und China dämpfen das globale Wachstum. Die Vernetzung der Welt stoppen sie nicht. Denn diese erfolgt weiterhin vor allem lokal. Die Hälfte aller Exporte geht nur ins Nachbarland. Auch der Austausch von Kapital, Personen und Informationen ist in direkter Nachbarschaft am intensivsten. Das ist mit ein Grund, warum die Sorge vor einem har- ten Brexit so groß ist. Denn die Briten werden an ihren Nachbarn in Europa nicht vorbeikommen. Ein Hinweis darauf, dass die Welt weiter zusammenrückt, ist auch die hohe Zahl an Freihandelsabkommen, die 2018 (ohne die USA) unterzeichnet wurden.
5 Die Schwellenländer sind die neuen Stars der Globalisierung.
Auch wenn sich Chinas Präsident, Xi Jinping, mittlerweile als neues Bollwerk der Globalisierung positioniert, spielen die Volksrepublik und viele Schwellenländer statistisch noch in einer ganz anderen Liga. Lediglich beim Handel können diese Staaten mit den Industrienationen wirklich mithalten. Menschen, Daten und Kapital gelangen hier aber noch deutlich schwerer über die nationalen Grenzen als im Westen. Was auffällt: Erstmals seit Jahren holten die Schwellenländer auch nicht mehr gegenüber Industrienationen auf.
Fakten werden falsch eingeschätzt
Relevant ist der Datenschatz hinter dem GCI, dessen Erstellung vom Logistikunternehmen DHL finanziert wird, nicht nur für Unternehmen, sondern auch für die Gesellschaft. Denn die populären Irrtümer über die Globalisierung beeinflussen nicht nur die Meinung der Menschen über Freihandelsabkommen, sondern auch über Menschenströme. Erhebungen in Europa und den USA ergaben, dass die Bürger die Zahl der Einwanderer im Land etwa um das Doppelte überschätzen, so Studienautor Altman: „Konfrontierten wir sie mit den Fakten, änderte jeder Fünfte seine Einstellung zu Migration.“