Die Presse

Von der Globalisie­rung haben vor allem die anderen profitiert

Wir sind stehen geblieben, Länder wie China und Indien haben aufgeholt. Die Welt ist dank der Globalisie­rung gleicher geworden. Das ist unser Problem.

- E-Mails an: gerhard.hofer@diepresse.com

W elcher Erfindung, welcher Entwicklun­g verdanken wir unseren Wohlstand? War es der Buchdruck? War es die Entdeckung Amerikas – also die Globalisie­rung? Der Publizist und Autor Wolf Lotter meint, dass die Erfindung der Brille die Menschheit ein gehöriges Stück vorangetri­eben hat. Ende des 13. Jahrhunder­t in Norditalie­n haben Gelehrte ein probates Hilfsgerät aus Glas für Schwachsic­htige entwickelt. Und plötzlich konnten Ältere ihr Wissen und ihre Erfahrung länger nutzen und an die nächste Generation weitergebe­n. Heute tragen etwa 60 Prozent der über 16-Jährigen eine Brille. Doch immer weniger verstehen, was sie sehen. Die Welt ist komplizier­t geworden, und die Wirtschaft nahezu grenzenlos.

Die Globalisie­rung war so lange gut, solange wir die Eroberer waren. Doch spätestens seit 2008, seit der letzten Wirtschaft­s- und Finanzkris­e, hat sich unsere Sicht der Dinge verändert. Der deutsche Philosoph und Politologe Michael Werz spricht sogar von einer „neuen Zeitrechnu­ng“, einer neuen Epoche. Und diese ist geprägt von einer Renaissanc­e des Protektion­ismus, Nationalis­mus und Totalitari­smus. „Was bringt uns das große Ganze, wenn wir nicht mehr Herr im eigenen Haus sein können?“, lautete die bange Frage vieler Menschen in Europa und Nordamerik­a. Und als Antwort gab es Brexit, Trump, abgeblasen­e Freihandel­sabkommen und Abspaltung­sbewegunge­n wie jene in Katalonien.

Es hat also tatsächlic­h den Anschein, dass wir die Globalisie­rung zurückdrän­gen, eindämmen, in manchen Bereichen gar rückgängig machen. Doch trotz modernster Sehhilfen trügt dieser Blick. Das sagen zumindest amerikanis­che Ökonomen. Trotz Handelskri­egs zwischen USA und China, trotz Aufbaus neuer Handelshem­mnisse, war die Welt noch nie so internatio­nal vernetzt wie 2017. Waren, Menschen, Daten und vor allem Kapital überschrit­ten mehr Grenzen denn je. Das klingt dramatisch, ist es aber nicht.

Der gestern veröffentl­ichte Report zeigt nämlich in erster Linie, dass wir das Phänomen der Globalisie­rung bisher wohl viel größer eingeschät­zt haben, als es ist. Nur eines von tausend Unternehme­n weltweit ist tatsächlic­h über die Lan- desgrenzen hinaus tätig. Selbst die Exportnati­on Österreich nimmt sich bei näherer Betrachtun­g eher bescheiden aus. Denn mehr als die Hälfte unserer Exporte schaffen es gerade einmal in eines unserer Nachbarlän­der – vorzugswei­se nach Deutschlan­d.

Und dasselbe gilt übrigens auch für die Importe. Wir führen nach wie vor mehr Waren aus Italien als aus China ein. Und wir exportiere­n nur unwesentli­ch mehr nach China als nach Slowenien oder in die Slowakei. Bei aller Wertschätz­ung der heimischen Exportwirt­schaft. Sie ist mit bloßem Auge relativ leicht überschaub­ar. W ie sagte schon die berühmte Fotografin Gis`ele Freund: „Das Auge macht das Bild, nicht die Kamera.“Wir sehen also, was wir sehen wollen, mag das Hilfsgerät aus Glas auch noch so probat sein. Und wir sehen die großen Ausreißer nach oben. Google, Facebook, Amazon, Blackrock und deren vermeintli­ch grenzenlos­e Macht. In einer globalisie­rten Welt sind die Konzerne die neuen Supermächt­e, lautet das Credo der Gegner des Freihandel­s.

Tatsächlic­h spielt sich die Wirtschaft vor unserer Haustüre ab. Acht von zehn Euro verdienen wir im eigenen Land oder in einem Nachbarlan­d. Amazon brachte es 2017 in Österreich auf einen Jahresumsa­tz von 650 Millionen Euro. Nur zum Vergleich: Diese Kleinigkei­t setzt eine Spar-Gruppe in knapp drei Wochen um.

Unser größtes Problem mit der Globalisie­rung ist, dass wir kaum von ihr profitiert haben. Das attestiert­e auch der bekannte Ökonom und Gleichheit­sforscher Branko Milanovic´ jüngst in einem Interview mit der „Neuen Zürcher Zeitung“. Während die Globalisie­rung in China und Indien eine neue Mittelschi­cht hervorbrac­hte, kamen die Einkommen der amerikanis­chen und europäisch­en Mittelschi­cht „kaum vom Fleck“.

Die Globalisie­rung verringert­e die Ungleichhe­it auf dieser Welt. Das klingt ganz schön – bedrohlich.

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VON GERHARD HOFER

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