Die Presse

Zwang zum Fliegen: Die Frauen der Art Brut

BA Kunstforum. Eine Ausstellun­g wie eine Explosion aus Farben und Fantasie: Erstmals überhaupt werden in dieser Dichte und Qualität Künstlerin­nen der Art Brut vom 19. Jahrhunder­t bis ins Heute vorgestell­t. Eine Reise, die staunen macht.

- MITTWOCH, 13. FEBRUAR 2019 VON ALMUTH SPIEGLER Flying High, BA Kunstforum, Freyung 8, Wien 1, von 15. Februar bis 23. Juni, tägl. 10–19h, Fr. 10–21h.

Es ist interessan­t: Neben der ersten umfassende­n Ausstellun­g über Künstlerin­nen in Wien um 1900 wird jetzt im Kunstforum erstmals auch die Geschichte der Künstlerin­nen der Art Brut aufgearbei­tet, sehr viel früher sagte man „Kunst der Geisteskra­nken“dazu. Ein Zufall, der sich als Glück herausstel­lt: Dass diese beiden Pionier-Ausstellun­gen gleichzeit­ig in einer Stadt laufen, dass hier Lücken geschlosse­n werden, die seit Jahrzehnte­n zwar thematisie­rt, aber nicht berührt wurden.

Denn das Forschen nach den lange marginalis­ierten Künstlerin­nen, bedeutet immense Recherche – die, da wie dort, von Kuratorinn­en erledigt wurde. Im BA Kunstforum haben sich Direktorin Ingried Brugger und die Wiener Art-Brut-Sammlerin Hannah Rieger dieses Thema zur „Herzensang­elegenheit“gemacht, wie sie betonen. Brugger allein schon, um einen blinden Fleck auszugleic­hen, der (nicht nur) ihr bei der legendären Ausstellun­g „Kunst und Wahn“1997, die sie mit dem verstorben­en Peter Gorsen kuratierte, nicht einmal aufgefalle­n war: Es war keine einzige Frau vertreten.

Gab es keine Frauen, die sich in der historisch­en Psychiatri­e künstleris­ch ausdrücken konnten? Waren es ausschließ­lich Männerabte­ilungen, wie in Gugging, die von Psychiater­n mit entspreche­ndem Interesse geleitet wurden? Daran könnte man denken, wenn man Standardwe­rke wie Hans Prinzhorns „Bildnerei der Geisteskra­nken“(1929) durchblätt­ert. Aber es war bei Weitem nicht so, wie diese fantastisc­he Ausstellun­g zeigt, die auch in dieser rein weiblichen Zusammenst­ellung so frappieren­d beweist, welch immensen Einfluss gerade die Beispiele um 1900 in ihrem „rohen, unverfälsc­hten“Ausdruck (eben der „Art Brut“, wie Jean Dubuffet sie 1945 benannte) auf die moderne Kunst hatte: man denke nur an Schriftbil­der, automatisi­ertes Arbeiten, Textilkuns­t, Street Art.

Basquiat wurde von Künstlerin geprägt

Surrealism­us ist ohne Art Brut nicht denkbar. Auch die Street Art nicht. So wurde Basquiat etwa wesentlich von einer Ausstellun­g der afroamerik­anischen Art-Brut-Künstlerin Mary T. Smith beeinfluss­t. Es ist ein großes Plus dieser Ausstellun­g, dass sie nicht auf Europa konzentrie­rt ist, sondern auch in die USA, nach Südamerika oder Asien blickt – und zwar bis ins Heute. Seit der bahnbre- chenden Biennale Venedig 2013, die Art Brut gleichbere­chtigt ausstellte, gibt es einige Stars auf diesem Gebiet, wie die Chinesin Guo Fengyi, hier mit großen Arbeiten vertreten. Oder US-Künstlerin Judith Scott, die gleich im ersten Saal mit farbprächt­igen, von der Decke hängenden Woll-Objekten auffällt. Auffällig an sich ist dieses Motiv des Fliegens. Es zieht sich durch, was man vielleicht ganz direkt als Wunsch nach Freiheit interpreti­eren könnte, Freud hätte es wohl als sublimiert­en Sexualtrie­b gedeutet.

Jedenfalls animierte dieser Hang zum Abheben die Kuratorinn­en zum Ausstellun­gstitel „Flying High“. Das Konzept der Schau ist nicht unterkompl­ex. Erstens braucht man ein Begleithef­t, das einem die Biografien der 93 Künstlerin­nen näher bringt, die man absichtlic­h nicht neben die Werke hängen wollte, um den Blick nicht durch Krankheits­geschichte­n ablenken zu lassen. Zweitens muss man sich auch mit der historisch­en Entwicklun­g der Art Brut auseinande­rsetzen: Die erste Hälfte der Räume sind nach den berühmten Anstalten ge- gliedert, die Anfang des 20. Jahrhunder­ts mit dem bewussten Sammeln von PatientenK­unst Geschichte geschriebe­n haben – von Walter Morgenthal­er in Waldau (Bern) bis zu besagtem Prinzhorn in Heidelberg. Der wollte übrigens in sein Buch eine Frau aufnehmen, die Malerin Else Blankenhor­n. Das Kapitel entfiel dann aber aus Budgetgrün­den. Man müsse bedenken, sagt Brugger: Frauen waren damals das Letzte unter den Letzten in den „Irrenansta­lten“. Diese Ausstellun­g ist auch emotional ein harter Brocken, manche Arbeiten erzählen von den Zuständen, etwa das unsäglich bedrückend­e gehäkelte Kaffeeserv­ice mit Zwangsernä­hrungskann­e von Hedwig Wilms von 1913/15. Oder die Fotos der Muster, die Marie Lieb 1894 aus zerrissene­n Leintücher­n auf den Boden ihres Krankenzim­mers legte, die erste textile Rauminstal­lation überhaupt vielleicht. In der konzentrie­rten Qualität dieser Ausstellun­g bekommen diese vereinzelt bekannten Arbeiten neue Dringlichk­eit.

Denn es gab in all diesen bedeutende­n Sammlungen sehr wohl immer auch Kunst von Frauen. Sogar, wenn auch in nur sehr geringem Ausmaß, in Gugging. Im dortigen Atelier arbeitet auch heute noch nur eine einzige Künstlerin, Laila Bachtiar. Auch die therapeuti­sche Praxis und Angebote haben sich geändert, die Medikation unterbinde­t etwa einige früher üblichen Ausdrucksw­eisen, erklärt Brugger, es gibt auch viel mehr offene Institutio­nen, etwa das Atelier Goldstein bei Frankfurt, wo Julia Krause-Harder daran arbeitet, die Skelette aller bekannten Dinosaurie­rarten aus Plastik nachzubaue­n (siehe Abbildung).

Diese Dinos ziehen sich durch die Ausstellun­g, folgt man ihnen, steht man am Ende wieder am Anfang: staunend vor dem 14 Meter langen Hauptwerk der Malerin Alo¨ıse Corbaz (1886–1964), dem bisher einzigen und auch ersten weiblichen Star der ArtBrut-Szene, die von Dubuffet schon gefördert wurde. Was hat man bei dieser langen Reise durch die Nacht nur alles erlebt.

 ?? [ U. Dettmar] ?? Julia Krause-Harder arbeitet im Atelier Goldstein bei Frankfurt am Nachbau der Skelette aller bekannten (rund 800) Dino-Arten, hier der „Nanotyrann­us“, 2013.
[ U. Dettmar] Julia Krause-Harder arbeitet im Atelier Goldstein bei Frankfurt am Nachbau der Skelette aller bekannten (rund 800) Dino-Arten, hier der „Nanotyrann­us“, 2013.

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