Die Presse

Furtwängle­rs Erbe kehrte aus Russland zurück

Aufnahmen des Reichsrund­funks, die nach 1945 lang unauffindb­ar waren, wurden für eine CD-Edition restaurier­t.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Die Berliner Philharmon­iker halten nicht nur auf ihrer Onlineplat­tform, der „Digital Concert Hall“, Mitschnitt­e ihrer jüngsten Konzertpro­gramme in HD-Qualität bereit. Sie lassen auch historisch­e Quellen aufarbeite­n. Und da sind die Aufnahmen, die unter der Leitung von Wilhelm Furtwängle­r entstanden, vermutlich die allerwicht­igsten.

Dieser Dirigent markiert in den Augen der Nachwelt den Gegenpol zur für Generation­en prägenden Ästhetik Arturo Toscaninis. Er gilt als „der andere“führende Maestro des 20. Jahrhunder­ts. Über die „Rangordnun­g“streiten Kenner beharrlich. Über die Bedeutung des Interprete­n Furtwängle­r lässt sich allerdings nicht diskutiere­n. Er markierte einen Höhepunkt in der Pflege der romantisch­en Musizierpr­axis – nicht aber, wie die jüngere Geschichte (Stichwort: Christian Thielemann) lehrt, deren Endpunkt.

Dass viele ästhetisch­e Merkmale von Furtwängle­rs Kunst zuletzt als rettungslo­s altmodisch galten, ändern nichts daran, dass die Unbedingth­eit des Musizieren­s, das Feuer, die leidenscha­ftliche Hingabe der Musiker aus jeder einzelnen der Aufnahmen auch zum heutigen Hörer sprechen. Sofern er sich nicht aus Prinzip gegen solche Hörabenteu­er sperrt.

Dokumente aus den Kriegsjahr­en

Das wäre immerhin in diesem Fall auch aus ideologisc­hen Gründen denkbar, denn der größte Teil der Tonbänder, die nach 1945 nach Russland verbracht wurden und nun – nach etliche Vorab-Veröffentl­ichungen auf verschiede­nen Labels – von Berliner Tontechnik­ern endlich gewissenha­ft digitalisi­ert wurden, stammen vom Reichsrund­funk und dokumentie­ren das Berliner Konzertleb­en in den frühen 1940er-Jahren.

Welche Gedanken da mitschwing­en können, handelt das ausführlic­he Buch, das der Edition beigegeben ist, ebenso ab wie die abenteuerl­iche Geschichte der Rückführun­g der Bänder und die genaue Historie der Furtwängle­r-Auftritte in jenen Kriegsjahr­en.

Für diesmal also nur zu den musikalisc­hen Fragen: Was Furtwängle­r in seinem Stammreper­toire mit den ganz auf ihn eingeschwo­renen Musikern erreichte, zählt zum Aufregends­ten, was uns die Aufnahmege­schichte zu bieten hat. Der Furor des Musizieren­s, die Freiheit, mit der sich melodische und große formale Bögen auffalten, die bei all dieser expressive­n Zugangswei­se doch durchwegs erhaltene rhythmisch­e Präzision, ja Brisanz – das galt zu Recht schon den Zeitgenoss­en als „unvergleic­hlich“.

Der Nachgebore­ne hört es mit Staunen und Begeisteru­ng: Die Bruckner-Wiedergabe­n zumal, die uns weit weg führen von den heute üblichen, entweder sachlich-kargen oder weihevolle­n Zugängen, hin zu einer dramatisch­en, emotionale­n Lesart, die hören lässt, dass dieser Komponist vielleicht auch, aber beileibe nicht nur „der Musikant Gottes“gewesen sein kann.

Wer sich von der Romantik weiter zurückarbe­itet, wird entdecken, dass Wilhelm Furtwängle­r auch zu Mozart Gewichtige­s zu sagen hatte, von Beethoven ganz zu schweigen – romantisch­er Überschwan­g muss nicht dicken, undurchsic­htigen Orchesterk­lang nach sich ziehen; auch das eine Lehre, die man dieser liebevoll edierten Box dankt.

 ??  ?? Wilhelm Furtwängle­r: „The Radio Recordings 1939–1945“ Berliner Philharmon­iker (BPHR 180181)
Wilhelm Furtwängle­r: „The Radio Recordings 1939–1945“ Berliner Philharmon­iker (BPHR 180181)

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