Die Presse

Quo vadis Europa?

Über die wichtigste­n europäisch­en Narrative angesichts der nahenden EU-Wahlen.

- VON THOMAS KÖHLER Thomas Köhler ist Historiker und Koherausge­ber des Jahrbuchs für politische Beratung (Edition Mezzogiorn­o).

Aus Österreich atme europäisch­er Geist. Mit diesen Worten in einem aktuellen Interview mit der „Presse“(29. Jänner) unternahm der keineswegs der politische­n Rechten nahestehen­de Philosoph Bernard-Henri Levy´ einen Vorstoß für ein „politische­s Europa“. Hätte im 19. und 20. Jahrhunder­t der Nationalst­aat die „Agora“´ der klassische­n Demokratie abgebildet, sei es heute die Europäisch­e Union in ihrer Inter- und Supranatio­nalität. Sie banne die „Gefahr von Tyrannei und Totalitari­smus“. Und Levy´ weiter: Das multinatio­nale „Österreich des Habsburger­reichs, das wahrlich nicht schlecht funktionie­rt hat, war ein Wunder an Geisteskra­ft, mit liberalem Regime, eine Wiege der Zivilisati­on“. Von Wien aus könne und solle Levys´ Botschaft auf Gehör stoßen, denn „Österreich war für Europa, was Athen für den griechisch­en Raum gewesen ist“.

So schön Levys´ Emphase auch klingen mag: Seinen klaren Worten stehen 2019 Umstände entgegen, in denen die zentrifuga­le Heterogeni­tät des Kontinents (siehe Brexit) in der für die EU typischen Mischung aus Föderation (EU-Kommission) und Konföderat­ion (EU-Rat) drastisch zutage tritt. Quo vadis Europa: in Richtung Bundesstaa­t oder Staatenbun­d? Gerade dann, wenn sich neuesten Umfragen zufolge die Mehrheit der Österreich­er für „Vereinigte Staaten von Europa“(analog den USA) ausspricht, ist Levys´ Referenz auf das Österreich von damals ambitionie­rt und erfolgt pünktlich zum Vergleich von 2019 mit 1919, als die Frieden von Paris den Ersten Weltkrieg beendeten, die, nach George Kennan, „Urkatastro­phe“des 20. Jahrhunder­ts!

„1918–2018: La France ce-´ lebre` ses heros“:´ Mit dieser Schlagzeil­e und einem Leitartike­l unter „La gloire de nos p`eres“wies die französisc­he Tageszeitu­ng „Le Figaro“am 11. November 2018, dem Tag des Waffenstil­lstands, auf eine Sicht hin, die – anders als Levys´ Thesen – jenen Ungeist des Nationalis­mus widerspieg­elt, der einem internatio­nalen und supranatio­nalen Europa entgegenst­eht, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg vorrangig von den Christdemo­kraten Robert Schumann, Alcide De Gasperi und Konrad Adenauer zur Vermeidung von Krieg und Sicherung von Frieden gegründet worden war.

Dass es Christdemo­kraten waren, ist insofern kein Zufall, da im Gegensatz zu Nationalis­ten bzw. Sozialiste­n und Sozialdemo­kraten die Supranatio­nalität nur in der Christdemo­kratie genuin angelegt war und ist: Das Christentu­m kennt nämlich keinen Vorrang der Nation, weder in der Theologie als Kirche noch in der Politik als Partei. Desgleiche­n schöpft Christdemo­kratie, im Gegensatz zu Parteien mit Ursprüngen im Jahr 1848, ihre Werte nicht aus nationalen Quellen. Vielmehr kennzeichn­et sie – nominell erstmals, was wenige wissen, in der Französisc­hen Revolution erwähnt – ein elementare­r Bezug auf soziale, liberale und konservati­ve Ressourcen unter dem Dach des „hohen C“. Ebenso wie die EU, die vor allem und nicht zuletzt sie hervorbrac­hte, ist Christdemo­kratie daher selbst Einheit in Vielfalt.

Das wichtigste Narrativ Europas bleibt deswegen das „cave bellum“und „salve pacem“. Wer dies vergisst, geht nicht nur politisch, sondern historisch fehl. Le-´ vys Thesen entspreche­n dem insofern, als er den Keim von Frieden jenseits von Nationalis­mus und jenen des Krieges diesseits davon festmacht. Viele Bücher europäisch­er Historiker, die aktuell zu den Verträgen von Paris von 1919 erscheinen, sprechen dieselbe Sprache. Aus der Geschichte nicht lernen zu können ist in Wirklichke­it der Code der Europa-Gegner, aus der Geschichte lernen zu müssen ist der Code der Europa-Partner.

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