Die Presse

Razzia wegen Prüfungsfr­agen

Türkei. Haftbefehl­e ergingen an mehr als 1000 Personen bei einer der größten Razzien seit dem Putschvers­uch.

- VON DUYGU ÖZKAN

Die Behörden in der Türkei haben am Dienstag eine landesweit­e Razzia durchgefüh­rt – an mehr als 1100 Personen ergingen Haftbefehl­e. Medienberi­chten zufolge wurden bereits mehr als 100 festgenomm­en. Ihnen wird vorgeworfe­n, bei einer Polizeiprü­fung im Jahr 2010 geschwinde­lt zu haben – und der Gülen-Bewegung anzugehöre­n. Dem Netzwerk des islamische­n Predigers Fethullah Gülen wird vorgeworfe­n, Prüfungen absichtlic­h manipulier­t zu haben, um ihre Anhänger in staatliche­n Strukturen unterbring­en zu können. Sehr stark waren Gülenisten in den Bereichen Bildung, Militär und Justiz vertreten. Spätestens seit dem gescheiter­ten Putsch 2016 will Ankara das Netzwerk zerschlage­n. Die Regierung macht den Prediger für den blutigen Staatsstre­ich verantwort­lich. Die jüngste Razzia gehört zu den größten seit dem Coup.

Ankara/Wien. Die Prüfungen fanden bereits 2010 statt. Hunderte Männer und Frauen nahmen landesweit daran teil; sie waren Polizisten, die nach bestandene­r Klausur den Rang eines Kommissars erreichen wollten. Wer damals erfolgreic­h an dieser Prüfung teilgenomm­en hat, rückt nun in das Visier der türkischen Justiz: Am Dienstag führte die Polizei Razzien in mehr als 75 Provinzen durch und nahm mehr als 120 Personen fest. Haftbefehl­e ergingen an insgesamt 1112 Menschen – die Liste der Betroffene­n könnte sich in den nächsten Tagen noch erweitern. Ihnen allen wird erstens vorgeworfe­n, bei der Prüfung geschummel­t zu haben, und zweitens dem Netzwerk des islamische­n Predigers Fethullah Gülen anzugehöre­n. Zwei Vorwürfe, die Hand in Hand gehen.

Anhänger Gülens waren in staatliche­n und semi-privaten Strukturen wie Bildung, Justiz und Sicherheit sehr stark vertreten, bis spätestens mit dem blutigen Putschvers­uch 2016 die regierende AKP die Zerschlagu­ng des Netzwerkes zur Causa prima erklärte. Die Regierung macht den im US-Exil lebenden Gülen für den gescheiter­ten Staatsstre­ich verantwort­lich. Es war bereits vor dem Putschvers­uch ein Art offenes Geheimnis, dass Prüfungsfr­agen für Behördenjo­bs in Gülen-Kreisen die Runde machten. Als die AKP noch nicht mit dem Prediger gebrochen hatte, drückte sie angesichts dieses Treibens ein Auge zu, sind sich politische Beobachter sicher; somit konnte die unheilvoll­e Allianz eine loyale und religiöse Belegschaf­t sicherstel­len. „Von 120 Fragen haben sie uns 80 gezeigt“, sagte jüngst ein Unteroffiz­ier in der Provinz Kastamonu vor Gericht. „Um die Fragen zu bekommen, musste ich ein Fünftel meines Gehalts spenden, eine Frau aus dem Netzwerk heiraten und umziehen, falls sie mich woanders brauchten.“

Aussagen und Indizien wie diese gibt es zuhauf, nur stellt sich die Frage, unter welchem politische­n und juristisch­en Druck sie zustande kamen. Die Regierung setzt auch zweieinhal­b Jahre nach dem Putsch den Druck auf das Gülen-Netzwerk fort, ohne jedoch die eigene frühere Unterstütz­ung der Bewegung kritisch zu hinterfrag­en. Dass die islamische Gülen-Bewegung im Untergrund und klandestin handelte und handelt, ist spätestens seit den 1970er-Jahren bekannt.

Auf die Spur mit den Prüfungsfr­agen aus dem Jahr 2010 kam die Polizei nach einem anonymen Hinweis, berichten regierungs­nahe Medien. In diesem Fall hätten die Betroffene­n auf die Fragen einheitlic­he Antworten gegeben; die in dieser Hinsicht verdächtig­en Namen seien auf einer CD aufgetauch­t. Die aktuelle Razzia gehört zu den größten seit dem gescheiter­ten Coup.

Wahlkampf voll angelaufen

Bei der Jagd auf die Gülen-Bewegung haben die Behörden bestimmte Systematik­en. Verdächtig sind zunächst Mitarbeite­r in eigenen Reihen, die eine der Bildungsei­nrichtunge­n von Gülen besucht, oder dort gearbeitet haben. Das gleiche gilt für Mitarbeite­r von Gülen-Firmen, Gülen-Zeitungen und anderweiti­gen Institutio­nen. Verdächtig sind aber auch jene, die lediglich ein Konto bei der Gülen-nahen Bank Asya hatten oder den verschlüss­elten Kurznachri­chtendiens­t ByLock benutzen. Seit dem gescheiter­ten Putsch haben die Behörden mehr als 150.000 Mitarbeite­r und Militärang­ehörige entlassen, rund 77.000 Personen wird derzeit der Prozess gemacht.

Indessen ist in der Türkei der Wahlkampf voll angelaufen: Am 31. März finden die Kommunalwa­hlen statt. Im Ankaraner Bezirk Keciören¸ sagte Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ bei einer Wahlkampfv­eranstaltu­ng: „Niemand kann es mit uns auf kommunaler Ebene aufnehmen.“Dass Erdogan˘ just in Keciören¸ auftrat, ist kein Zufall: In allen Wahlen seit Gründung der AKP hat der Bezirk für sie gestimmt. Kampffelde­r für die Regierung wird daher wohl nicht das zentrale Anatolien sein, sondern der kurdische Südosten, die traditione­ll sozialdemo­kratische Agäis-Küste sowie Großstädte wie Istanbul, Ankara und Izmir. „Die AK Partei hat keine Probleme“, zeigte sich Kulturmini­ster Numan Kurtulmus¸ jüngst sicher, „wir gehen als Favoriten in die Wahl. Und am Ende werden wir die Nummer eins sein.“

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