Die Presse

Bis einer zur Kettensäge greift . . .

Im Kino. Ein Streit unter Nachbarn um einen Baum setzt in der isländisch­en Komödie „Under the Tree“eine aberwitzig­e Eskalation­sspirale in Gang. Trotz Klischees ein schöner, böser Spaß.

- VON MARTIN THOMSON

Sie bilden im Bereich satirische­r Demontagen des Bürgertums beinahe schon ein eigenes Subgenre: Komödien über Konflikte zwischen Nachbarn in vermeintli­ch idyllische­n Vorstädten, die sich an Lappalien entzünden und eine aberwitzig­e Eskalation­sspirale in Gang setzen. In „Under the Tree“fungiert der Schatten eines Baums als Auslöser für einen zunächst noch auf verbale Entgleisun­gen beschränkt­en Streit. Eybjörg, die zehn Jahre jüngere Frau von Konrad,´ stört sich daran, dass ihr das Gewächs von gegenüber beim täglichen Sonnenbad das Licht nimmt. Inga reagiert auf die Forderung der eitlen Hobbysport­lerin, der hölzerne Riese müsse gefällt werden, unverhältn­ismäßig aggressiv, beschimpft sie als „Fahrradsch­lampe“und drängt ihren schwermüti­gen Ehemann, Baldvin, in die leidige Position ihres Verteidige­rs. Als dem daraufhin einsetzend­en Psychoterr­or ein unschuldig­es Haustier zum Opfer fällt, scheint der Griff zur Kettensäge unvermeidb­ar . . .

Der isländisch­e Regisseur Hafsteinn Gunnar Sigurðsson arbeitet in seiner Beschreibu­ng des ganz normalen Wahnsinns, der in braven Reihenhaus­bewohnern auf Entladung wartet, mit Geschlecht­erklischee­s: Herzlose Frauen schicken ihre zu Pantoffelh­elden degradiert­en Männer in den Krieg. Allerdings belässt er es nicht bei dieser Schablone. Die Ursachen reichen tiefer. Auf der einen Seite wird unter einer länger zurücklieg­enden Familientr­agödie gelitten, für deren Verarbeitu­ng offenbar die Fähigkeit zum Eingeständ­nis von Gefühlen wie Trauer und Reue fehlt. Wer Verletzlic­hkeit zeigt, ist für Inga ein Waschlappe­n. Auf der anderen Seite vollziehen Konrad´ und Eybjörg ein steril anmutendes Befruchtun­gsprogramm, das auf enttäuscht­e Erwartunge­n

und sich widersprec­hende Sehnsüchte schließen lässt. Er hat sich wohl eine leidenscha­ftliche Bettgefähr­tin und keine Domina mit Mutterwuns­ch erhofft – und sie sich einen resolutere­n Sugardaddy. Hinter der harmonisch­en Wohlstands­fassade wirken alle wie unglücklic­he Mängelwese­n.

Und dann gibt es noch Atli, den Sohn von Inga und Baldvin, der seit seinem Rauswurf von daheim im Garten seines Elternhaus­es pennt. Nach dem Zerwürfnis mit seiner Ehefrau, Agnes, die ihn beim Onanieren am PCBildschi­rm erwischt hat, auf dem er beim Liebesverk­ehr mit einer gemeinsame­n Bekannten zu sehen war (ein altes Urlaubsvid­eo, das er besser hätte löschen sollen), stolpert er in jede nur erdenklich­e Falle, um als gewalttäti­ger Ehemann und bedrohlich­er Kidnapper der gemeinsame­n Tochter dazustehen. Das schräge, aber dezent inszeniert­e Sittengemä­lde bildet also zwei Generation­en ab, die beide gern vorschnell­e Schlüsse aus unvollstän­digen Informatio­nen ziehen – und die beide kein Interesse an offenen Dialogen erkennen lassen.

Die Produktion ist immer dann am besten, wenn sie den Entstehung­szusammenh­ängen von Missverstä­ndnissen nachspürt, besonders, wenn diese von Medien verursacht oder intensivie­rt werden. Die von Baldvin über der Garage angebracht­e Überwachun­gskamera verstärkt die von Verdächtig­ungen angespannt­e Atmosphäre nur – und Agnes’ Schock angesichts des Sex-Tapes wirkt beinahe so, als würde sie ihren Gatten leibhaftig und gegenwärti­g mit einer anderen Frau vorfinden. Immer wieder geht es um die Diskrepanz zwischen Selbstbild­ern und Fremdbilde­rn, Idealbilde­rn und Medialbild­ern. Nur ist den Figuren nie bewusst, wie sehr sie davon im Bann gehalten werden. Die komischen Momente, die sich dabei ergeben, machen „Under the Tree“trotz seiner Klischees zu einem bösen Spaß.

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