Die Presse

Wo bleibt das Schuldbewu­sstsein von Kurz, SPÖ und Co.?

Nachsitzen sollte das ganze Hohe Haus. Überlegen, was falsch gelaufen ist.

- VON THOMAS RAAB Thomas Raab (* 1970) ist ein österreich­ischer Schriftste­ller und wurde bekannt durch seine Krimis um Restaurato­r Metzger.

Genug ist genug. Und sie ist mehr als genug, diese Streiterei, von der uns versproche­n wurde, sie mit neuem Stil beenden zu wollen, wie Strache und Gudenus sich selbst. Krisen können Menschen zusammenfü­hren oder sie noch weiter trennen.

Es war erschütter­nd, als wir am Samstag alle vor dem Fernseher saßen, um auf ein Statement des Kanzlers zu warten, und stattdesse­n wurde uns kurz vor 20 Uhr ein Wahlkampfa­uftakt präsentier­t, der sich gewaschen hatte. Eine ichbezogen­e, massiv berechnend­e Rede, so frei von der für diese Situation nötigen Einsicht und Herzenswär­me. Keine staatstrag­ende Ansprache, nichts Verbindend­es, wie es unserem Präsidente­n später gelungen ist, sondern eine Streitansa­ge, endend mit der Bitte um Unterstütz­ung bei den nächsten Urnengänge­n. Welche Ratgeber stecken dahinter? Welche Auffassung von Politik? Wer schreibt so etwas?

Dieser demaskiere­nde Moment hat an einem Wochenende der Fassungslo­sigkeit noch weiter fassungslo­s werden lassen. Andere zum Streiten anstacheln, aber wenn dann der Streit ausbricht, sich auf einen neuen Stil berufen! Das geht gar nicht. Und so bitter es ist, diese anderen lassen sich auch munter provoziere­n, als hätten sie nur darauf gewartet. Laufen ins offene Messer. Und ich frage mich: Wollen wir das? Ist genug nicht wirklich mehr als genug? Wo ist das Schuldbewu­sstsein des Kanzlers, der Türkisen, die uns verkaufen, sie hätten mit der Krise nichts zu tun, und die die letzten Monate hindurch schon reihenweis­e Gründe geliefert bekamen, die längst fällige Reißleine für diese Schande ziehen zu können? Wo ist das Schuldbewu­sstsein der Roten, die völlig darauf vergessen, wie gewaltig ihr eigener Beitrag für diese Mehrheit aus Schwarz-Blau war und ist? Auch den Grünen und deren Selbstzerf­leischungs­akt vor der letzten Wahl ist die Mitverantw­ortung für den Zustand heute nicht abzusprech­en. Und wer glaubt, die

FPÖ wäre nun erledigt, wird sich noch wundern.

Jetzt muss eine Regierung her, die völlig frei ist von alledem. Und welch unglaublic­he, nie dagewesene Chance wäre das? Kein Versagen, sondern ein Gewinn an Kultur. Ein reines Expertenka­binett unter der Obhut unseres Bundespräs­identen. Wozu sich deshalb Sorgen machen? Schließlic­h wird dieses Land von keiner Regierung getragen, keinem Kanzler, keinen Ministern, sie alle sind nur Dienende. Dieses Land tragen die Menschen selbst, die Früh- und die Spätaufste­her, die Tag- und die Nachtschic­ht, der gut eingespiel­te Verwaltung­sapparat, das verlässlic­he Miteinande­r in den Gemeinden, Ländern. Und sie tragen es seit Jahren und ertragen das traurige Spiel auf ihre Kosten. Nicht der Kanzler hat irgendetwa­s ertragen müssen, sondern wir. Eine Regierungs­partei, die jetzt in dieser Übergangsp­hase nur weiter ihr eigenes Kalkül verfolgt, das macht Sorge. Und seit der Samstagsre­de ist nichts anderes zu erwarten.

Wieder eintreten in die Reihen der Abgeordnet­en, das ist nun angesagt, auf dass die handelnden Damen und Herren in aller Ruhe ein wenig in sich gehen können hinsichtli­ch der Frage, wie es nicht mit ihnen selbst, sondern mit diesem Land weitergehe­n soll. Nachsitzen. Das ganze Hohe Haus. Überlegen, was falsch gelaufen ist. Befreit vom Regieren-Dürfen endlich wieder Reagieren-Können, ausführlic­h Zusammenre­den mit allen anderen, ohne Ablenkung, ohne Fluchtmögl­ichkeit, ohne große Selbstdars­tellung, ohne Show, und dabei vielleicht sogar für ein paar Atemzüge aufs Taktieren vergessen. Das bringt uns vielleicht langfristi­g Stabilität. Denn es gibt keine dringender­e Reform, als die Neujustier­ung des Miteinande­rs aller handelnden Personen im Parlament. Diese Damen und Herren nämlich werden diesem Land erhalten bleiben, um es weiter zu formen.

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