Die Presse

Was den kranken Körper schwinden lässt

Schwere chronische Erkrankung­en gehen oft mit starkem Muskel- und Gewichtsve­rlust einher. Erst seit Kurzem weiß man, dass sich dahinter eine eigene Krankheit verbirgt, deren Ursprung im Immunsyste­m liegen könnte.

- VON WOLFGANG DÄUBLE

Eingefalle­ne Wangen, tiefe Augenhöhle­n, dünne Arme und Beine an einem ausgemerge­lten Körper – chronische, schwerste Krankheite­n haben oft unübersehb­are Auswirkung­en auf die äußere Erscheinun­g der Patienten. Ob bei Krebs, Aids, Nierenerkr­ankungen oder schweren Infektione­n – lang hielt man den dabei auftretend­en unkontroll­ierbaren Gewichtsve­rlust für eine simple Begleiters­cheinung der diagnostiz­ierten Erkrankung. Folglich konzentrie­rten sich Ärzte und Wissenscha­ftler auch auf deren Behandlung in der Hoffnung, der ausgezehrt­e Organismus werde sich erholen, wenn die primäre Erkrankung erfolgreic­h bekämpft ist.

Inzwischen weiß man aber, dass Kachexie, wie die krankhafte Abmagerung im Fachjargon heißt, eine eigenständ­ige Folgeerkra­nkung ist, erklärt Andreas Bergthaler vom Forschungs­zentrum für Molekulare Medizin (Cemm) der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften: „Die Kachexie ist ein komplexes und noch wenig verstanden­es Syndrom mit sehr unterschie­dlicher klinischer Ausprägung. Es kommt zu einem Schwund von Fett- und Muskelgewe­be sowie einer grundlegen­den Veränderun­g des Stoffwechs­els, auch eine Entzündung­skomponent­e ist beteiligt. Und man kann die Kachexie nicht einfach durch erhöhte Kalorienzu­fuhr stoppen.“

Ein mitunter lebensbedr­ohlicher Zustand: Der ohnehin schon geschwächt­e Organismus verliert zusätzlich Energieres­erven, die nicht aufgefüllt werden können. Strapaziös­e Behandlung­en wie etwa Chemothera­pien werden schlechter vertragen, besonders bei Krebspatie­nten im Endstadium verringert sich die Lebenserwa­rtung dramatisch. Eine Behandlung der Kachexie ist bisher nicht in Sicht, obwohl die Wissenscha­ft in jüngster Zeit vor allem im Zusammenha­ng mit Krebs einige Fortschrit­te erzielt hat.

Nahezu unerforsch­t war Kachexie hingegen als Folgeerkra­nkung von Infektione­n, sagt Bergthaler, der am Cemm eine Forschungs­gruppe leitet, die das Immunsyste­m erforscht. In seiner neuesten Studie (Nature Immunology, 20. 4.) haben er und sein Team die Hungerkran­kheit nach einer chronische­n Virusinfek­tion mithilfe von Labormäuse­n untersucht.

„Was wir bei den Tieren gesehen haben, war völlig anders als die krebsassoz­iierte Kachexie. Das hat uns alle überrascht“, erinnert sich Hatoon Baazim, PhD-Studentin in Bergthaler­s Labor und Erstautori­n der Studie. „Keiner der Botenstoff­e, die wir erwartet hatten, spielte eine Rolle. Stattdesse­n entpuppten sich die Killerzell­en des Immunsyste­ms, die sogenannte­n T-Lymphozyte­n (s. Lexikon, Anm.) als Protagonis­ten – sie haben in kürzester Zeit das komplette Fettgewebe unserer Labormäuse umgebaut.“

Der Einfluss der Killerzell­en lässt sich unter dem Mikroskop auf den ersten Blick feststelle­n: Die sonst prall gefüllten Fettzellen sind auf einen Bruchteil ihrer Größe geschrumpf­t, Blutgefäße durchziehe­n das normalerwe­ise einheitlic­he Fettgewebe. „Als ob unter den Zellen Panik ausgebroch­en sei“, beschreibt Baazim den Zustand.

Das konnten die Forscher auch auf molekulare­r Ebene feststelle­n: Ein eigentlich gegen die Viren gerichtete­r Botenstoff, das Typ-I-Interferon, löste eine Lawine an biochemisc­hen Reaktionen aus, die letztlich zur Auflösung des Fettdepots führen. „Wie die T-Killerzell­en

sind weiße Blutkörper­chen, die zum erworbenen (adaptiven) Immunsyste­m gehören. Über spezielle Proteine auf ihrer Oberfläche, den T-Zell-Rezeptoren, können sie wie Antikörper körperfrem­de Stoffe erkennen – allerdings nur, wenn sie von eigens dafür zuständige­n Zellen präsentier­t werden. Die Hauptaufga­be der T-Lymphozyte­n ist das Aufspüren und Abtöten von infizierte­n oder krankhafte­n Zellen, weshalb sie auch den Beinamen „Killerzell­e“tragen. diese verheerend­en Prozesse in den Fettzellen anstoßen, wissen wir noch nicht – sie machen das jedenfalls nicht über direkten Kontakt. Unsere Vermutung ist daher, dass sie Substanzen ausstoßen, die aus der Ferne wirken“, so Bergthaler. In weiteren Studien soll diese Hypothese überprüft werden.

Für den Forscher sind die Kachexie-Simulation­en in der Maus auch aus anderem Grund interessan­t: „Wir beobachten, dass die Kachexie nach einer Virusinfek­tion innerhalb von wenigen Tagen wieder verschwind­et. Das wirft interessan­te Fragen auf: Ist das Abmagern vielleicht eine Strategie des Körpers, um möglichst rasch Energieres­erven freizusetz­en und damit die Infektion zu bekämpfen? Und kann man eventuell die Mechanisme­n, die für das Verschwind­en der Kachexie verantwort­lich sind, auch für eine Therapie nutzen?“Ein tieferes Verständni­s dieser rätselhaft­en Krankheit, so Bergthaler, sei wichtig, um neue Strategien für ihre Linderung zu finden.

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