Was den kranken Körper schwinden lässt
Schwere chronische Erkrankungen gehen oft mit starkem Muskel- und Gewichtsverlust einher. Erst seit Kurzem weiß man, dass sich dahinter eine eigene Krankheit verbirgt, deren Ursprung im Immunsystem liegen könnte.
Eingefallene Wangen, tiefe Augenhöhlen, dünne Arme und Beine an einem ausgemergelten Körper – chronische, schwerste Krankheiten haben oft unübersehbare Auswirkungen auf die äußere Erscheinung der Patienten. Ob bei Krebs, Aids, Nierenerkrankungen oder schweren Infektionen – lang hielt man den dabei auftretenden unkontrollierbaren Gewichtsverlust für eine simple Begleiterscheinung der diagnostizierten Erkrankung. Folglich konzentrierten sich Ärzte und Wissenschaftler auch auf deren Behandlung in der Hoffnung, der ausgezehrte Organismus werde sich erholen, wenn die primäre Erkrankung erfolgreich bekämpft ist.
Inzwischen weiß man aber, dass Kachexie, wie die krankhafte Abmagerung im Fachjargon heißt, eine eigenständige Folgeerkrankung ist, erklärt Andreas Bergthaler vom Forschungszentrum für Molekulare Medizin (Cemm) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften: „Die Kachexie ist ein komplexes und noch wenig verstandenes Syndrom mit sehr unterschiedlicher klinischer Ausprägung. Es kommt zu einem Schwund von Fett- und Muskelgewebe sowie einer grundlegenden Veränderung des Stoffwechsels, auch eine Entzündungskomponente ist beteiligt. Und man kann die Kachexie nicht einfach durch erhöhte Kalorienzufuhr stoppen.“
Ein mitunter lebensbedrohlicher Zustand: Der ohnehin schon geschwächte Organismus verliert zusätzlich Energiereserven, die nicht aufgefüllt werden können. Strapaziöse Behandlungen wie etwa Chemotherapien werden schlechter vertragen, besonders bei Krebspatienten im Endstadium verringert sich die Lebenserwartung dramatisch. Eine Behandlung der Kachexie ist bisher nicht in Sicht, obwohl die Wissenschaft in jüngster Zeit vor allem im Zusammenhang mit Krebs einige Fortschritte erzielt hat.
Nahezu unerforscht war Kachexie hingegen als Folgeerkrankung von Infektionen, sagt Bergthaler, der am Cemm eine Forschungsgruppe leitet, die das Immunsystem erforscht. In seiner neuesten Studie (Nature Immunology, 20. 4.) haben er und sein Team die Hungerkrankheit nach einer chronischen Virusinfektion mithilfe von Labormäusen untersucht.
„Was wir bei den Tieren gesehen haben, war völlig anders als die krebsassoziierte Kachexie. Das hat uns alle überrascht“, erinnert sich Hatoon Baazim, PhD-Studentin in Bergthalers Labor und Erstautorin der Studie. „Keiner der Botenstoffe, die wir erwartet hatten, spielte eine Rolle. Stattdessen entpuppten sich die Killerzellen des Immunsystems, die sogenannten T-Lymphozyten (s. Lexikon, Anm.) als Protagonisten – sie haben in kürzester Zeit das komplette Fettgewebe unserer Labormäuse umgebaut.“
Der Einfluss der Killerzellen lässt sich unter dem Mikroskop auf den ersten Blick feststellen: Die sonst prall gefüllten Fettzellen sind auf einen Bruchteil ihrer Größe geschrumpft, Blutgefäße durchziehen das normalerweise einheitliche Fettgewebe. „Als ob unter den Zellen Panik ausgebrochen sei“, beschreibt Baazim den Zustand.
Das konnten die Forscher auch auf molekularer Ebene feststellen: Ein eigentlich gegen die Viren gerichteter Botenstoff, das Typ-I-Interferon, löste eine Lawine an biochemischen Reaktionen aus, die letztlich zur Auflösung des Fettdepots führen. „Wie die T-Killerzellen
sind weiße Blutkörperchen, die zum erworbenen (adaptiven) Immunsystem gehören. Über spezielle Proteine auf ihrer Oberfläche, den T-Zell-Rezeptoren, können sie wie Antikörper körperfremde Stoffe erkennen – allerdings nur, wenn sie von eigens dafür zuständigen Zellen präsentiert werden. Die Hauptaufgabe der T-Lymphozyten ist das Aufspüren und Abtöten von infizierten oder krankhaften Zellen, weshalb sie auch den Beinamen „Killerzelle“tragen. diese verheerenden Prozesse in den Fettzellen anstoßen, wissen wir noch nicht – sie machen das jedenfalls nicht über direkten Kontakt. Unsere Vermutung ist daher, dass sie Substanzen ausstoßen, die aus der Ferne wirken“, so Bergthaler. In weiteren Studien soll diese Hypothese überprüft werden.
Für den Forscher sind die Kachexie-Simulationen in der Maus auch aus anderem Grund interessant: „Wir beobachten, dass die Kachexie nach einer Virusinfektion innerhalb von wenigen Tagen wieder verschwindet. Das wirft interessante Fragen auf: Ist das Abmagern vielleicht eine Strategie des Körpers, um möglichst rasch Energiereserven freizusetzen und damit die Infektion zu bekämpfen? Und kann man eventuell die Mechanismen, die für das Verschwinden der Kachexie verantwortlich sind, auch für eine Therapie nutzen?“Ein tieferes Verständnis dieser rätselhaften Krankheit, so Bergthaler, sei wichtig, um neue Strategien für ihre Linderung zu finden.