Ehe mit dem Volk?
Wie selten ist es geworden, dass man während der Lektüre eines zeitgenössischen Werkes „Grandios!“denkt, und diese Einschätzung über den letzten Satz hinaus Bestand hat. Marlene Streeruwitz’ „Flammenwand.“, ein Roman mit Anmerkungen, der dieser Tage im S. Fischer Verlag erscheint, ist großartig, da durchdacht, klug komponiert und jedes darin genutzte Strukturmittel fundiert ist.
Dies beginnt beim Einstieg in das Erzähluniversum und endet erst mit dem letzten Satz. Dabei ist der bloße Inhalt für sich genommen alles andere als neu: Eine Wienerin, Adele Süttner, 52, nimmt sich 2018 ein Sabbatical von ihrer Erwerbsarbeit als Lehrende im Bereich Deutsch als Fremdsprache, unter anderem, um ihren Partner, Gustav, einen Steuerfahnder, nach Stockholm zu begleiten. Die noch junge Beziehung steckt ob seiner Impotenz in der Krise, welche Adele jedoch um Gustavs Schonung willen nicht anspricht.
Eines Morgens ist der Kaffee alle. Sie bricht in die Stadt auf, um Nachschub zu besorgen. Wenig später bemerkt sie Gustav in einer Konditorei, versunken tippt er eine Nachricht in sein Mobiltelefon ein. Diese kommt nie bei ihr an. Der Verdacht, er schreibe einer anderen Frau, wird zur Gewissheit, als diese, eine Libanesin, Adele anruft: Gustav, der im letzten Winter die geplante Heirat plötzlich abgeblasen hat, habe sie gebeten, zu ihm zu kommen. Damit wird die Katastrophe, die lang schon unbemerkt begonnen hat, sichtbar, die vermeintliche Impotenz ist sein Sichaufsparen.
Dieser Inhalt wird weder linear noch realistisch erzählt. Als Vorbote hierfür kann bereits die Widmung für Ad`ele Hugo gelesen werden, jüngstes Kind des französischen Literaten Victor Hugo. Im Exil auf der Kanalinsel Jersey verfasste sie über Napoleon sowie über ihres Vaters politische Rolle als Republikaner eine umfassende Chronik, die zu ihren Lebzeiten nie erschien. Eine Schönheit sei sie gewesen, so Balzac, eine Unglückliche, die sich verliebte und die das Unglaubliche wagte. Zu einer Zeit, da Frauen kein Schritt allein gestattet war, brach sie auf, um ihren Geliebten Albert zur Rede zu stellen, folgte ihm bis auf die Karibikinsel Barbados, da sie die Erfüllung seines Heiratsversprechens einfordern wollte. Zwanzig Jahre rund währte die Hoffnung, bis sie 1872 nach Paris zurückkehrte, eine gebrochene Frau, von Wahnvorstellungen verfolgt, weshalb ihr Vater sie in eine Anstalt einliefern ließ.
Diese Widmung korrespondiert mit dem Haupterzählstrang. Die Verwobenheit als Kompositionsprinzip setzt sich sogleich auf der ersten Textseite fort, die mit „Montag, 19. März 2018. Stockholm.1“überschrieben
Flammenwand. Roman mit Anmerkungen 416 S geb ist: Im Fließtext sind stets je zwei Ebenen eingebettet, eine Adele-Handlung und eine politische Chronik. Adele sieht in der Shopping-Mall ein Plakat, welches für Urlaub in Vietnam wirbt. Ein junger Mann sonnt sich darauf in einem Boot.
Diese Wahrnehmung wird fulminant mit gespeicherten Erinnerungsbildern einer Kriegsszenerie kontrastiert. Darüber hinaus verweisen die hochgestellten Ziffern am Ende des Datums auf den Appendix, der in nüchternen Kurzdarstellungen die politischen Ereignisse rund um die ÖVP-FPÖRegierung umreißt. Noch entschlüsselt sich diese Komposition dem Lesenden nur ansatzweise, sie irritiert jedoch. Eine intendierte Reaktion, die Streeruwitz in diesem intellektuellen Puzzle gekonnt ausbaut. Auf Seite 18 ist von der Märzsonne in Stockholm die Rede, das Kapitel jedoch wird mit 1. April und Wien überschrieben. Ein verzeihlicher Fehler, glaubt man, bis jener Spalt zwischen Kapitelüberschrift und Erzählkörper zur Kluft wird.
Nach und nach fügt sich in den Windungen die die Erzählsprache im kurzen jenes Morgens angehalten. In diesen wenigen Stunden eines Märztages geschieht bei minus 15 Grad in Stockholm etwas, was nicht nur mit den politischen Entwicklungen korrespondiert, weil sich diese darin abbilden, sie einander den Spiegel vorhalten, sondern das Private hemmt auch jede tatkräftige Reaktion darauf und beschäftigt die Protagonistin bis zum letzten Eintrag der politischen Chronologie unter dem Datum 9. Oktober 2018. Dessen finale Zeile schließt den Bogen. Sie lautet: „Im FPÖ-Innenministerium wird eine neue Sektion eingerichtet. Die Sektion V wird , Fremdenwesen‘ genannt.“
Nichts ist in dieser Komposition dem Zufall überlassen. Weder der Ort – „Das ganze Leben ist ein Stockholm-Syndrom.“– noch die langsam aufgebaute und immer schlüssiger werdende Verquickung des Privaten mit der Politik, bis diese klar benannt wird: „Die Populisten machten das gerade alle. Ein Kasperltheaterskript für die Öffentlichkeit. Ein Machiavelli-Skript für die eigentliche Realität. Das wurde Politik genannt und war doch nur eine ganz normale Ehe mit dem Volk.“
Diese „normale Ehe“, die einem auf Basis der Erzählhandlung am Beispiel einiger Paare vorgeführt wird, ist dominiert von Kontrasten wie Macht und Ohnmacht, Ausbeutung und Hingabe, manipulierten Berichten und der Suche nach dem Echten. Hier könnte eventuell die Kritik angebracht werden, dass hinsichtlich der Rollen Täter/ Opfer keine andere als die stereotype Verteilung Streeruwitz’ denkbar sei.
Diese Anmerkung jedoch ließe außer Acht, wie Streeruwitz sehr klar zeichnet, dass erst die Erfüllung der Rolle durch die Frauen das Szenario ermöglicht, und sie darin zu Täterinnen werden. Selbst wenn man ob mancher Pointierung vielleicht schmunzeln mag – „Sie war ins 21. Jahrhundert geraten, und Gustav lebte 1805.“–, lässt jedem wohl die Jahreszahl das Lachen im Hals stocken: Oktober 1805, Napoleon Bonapartes französische Truppen siegen über das österreichische Heer, Dritter Koalitionskrieg und so weiter.
Fulminant ist auch der gekonnte Wechsel der Realitätsebene, schleichend geht dieser vonstatten, beginnt bei einem Rockkauf mit Rosenmuster für drei Romafrauen, geht über in das Halten eines Hermelins im dazupassenden Kopftuch und ufert in wucherndes Blattwerk samt Ranken, die den Körper Adeles umfassen und penetrieren, um final über das Bild „Kleider machen Leute“wieder in die Realität zu fluten: Adele im Romarock wird für eine Bettlerin gehalten und fortgewiesen, polizeilich kontrolliert und final im Supermarkt mittels Elektroschockpistole lahmgelegt.
Der Notruf, den sie wenig später abgibt, korrespondiert gleichfalls mit dem „Fremdenwesen“auf der Politebene. Viel gäbe es ob dieses mehrschichtigen Werks noch zu erwähnen vor allem jedoch den Wunsch es