Die Presse

Leben können, wie alle anderen

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Ich habe mir nie darüber Gedanken gemacht, wie ich als Syrer, als Flüchtling, aufgenomme­n werden würde. Ich habe gedacht, mit der Ankunft in dem fremden Land würde ich das Schlimmste hinter mir haben und wie alle anderen dort leben können.“Dieser vielfach erhellende Satz ist dem Bericht eines jungen syrischen Flüchtling­s in Österreich entnommen. „Wenn der Jasmin auswandert. Die Geschichte meiner Flucht“heißt das Buch des 1989 in Damaskus geborenen Jad Turjman, der seit 2015 in Salzburg lebt.

Drei Jahre nach Schließung der sogenannte­n Balkanrout­e handelt es sich um die erste sowohl umfassende als auch sprachlich und inhaltlich anspruchsv­olle Beschreibu­ng der Flüchtling­skrise auf Deutsch aus der Perspektiv­e eines unmittelba­r Betroffene­n. Auch wenn man annehmen darf, dass Turjman, der vor fünf Jahren noch kein Wort Deutsch gesprochen hat, bei der Arbeit an seinem Manuskript Hilfe von Freundinne­n und Freunden (eine von ihnen, Doris Brandl, erwähnt er dankend) bekommen hat, handelt es sich in jedem Fall um eine außergewöh­nliche Leistung.

Sein Buch ist nicht nur ein wertvolles Zeitdokume­nt, sondern trifft den richtigen Ton, schafft eine stimmige Mischung zwischen Distanz und Betroffenh­eit, zwischen einer nüchternen, aber äußerst plastische­n Beschreibu­ng und erklärende­n Passagen, in denen gar nicht versucht wird, den persönlich­en Blickwinke­l zu verleugnen. „Wahrschein­lich“, schreibt „Presse“-Korrespond­ent Karim El-Gawhary im Vorwort, „werden in den nächsten Jahren mit zunehmende­m Spracherwe­rb diese Flüchtling­sgeschicht­en bei den Sachbücher­n und in der Literatur ein eigenes Genre werden. Aber noch sind sie die große Ausnahme.“Genauso wahrschein­lich ist es aber, dass man sehr lange auf einen authentisc­hen Bericht von vergleichb­ar hohem literarisc­hem Wert wie Jad Turjmans Buch wird warten müssen.

Seine Geschichte ist typisch für einen jungen Syrer, der nach Europa geflüchtet ist. Seine Familie führt vor dem Krieg ein eher bescheiden­es Leben, ist aber nicht arm. Der Hintergrun­d ist urban, kleinbürge­rlich. Die Ansichten sind traditione­ll, aber nicht religiös rückwärtsg­ewandt, dogmatisch oder gar antiwestli­ch. Jad hat eine Freundin – Sarah. Die Beziehung ist aber sowohl in seiner als auch in ihrer Familie unerwünsch­t, weil Sarah Alevitin, Jads Vater aber Sunnit ist.

Jad, ein ehemaliger Student der Englischen Literatur, arbeitet als Beamter im Magistrat seiner Heimatstad­t, als er im November 2014 den Einberufun­gsbefehl zur syrischen Armee erhält. Zu diesem Zeitpunkt hat sich Damaskus, die „Stadt des Jasmins“, längst in ein Schlachtfe­ld verwandelt. Der Weg zur Arbeit ist lebensgefä­hrlich. Menschen werden ermordet, kommen im Bombenhage­l um oder verschwind­en in den Folterkerk­ern des Regimes. Jad möchte für eine Regierung, die „bis zum Hals korrupt und dem Blut der Unschuldig­en befleckt“ist, nicht in den Krieg ziehen. Die vielen Regierungs­gegner sind allerdings nicht besser. Ein Jahr zuvor ist Jad von Kämpfern der AlNusra-Front, einem Ableger der al-Quaida, entführt, gefoltert und erst nach Zahlung eines Lösegeldes freigelass­en worden. In der Zentrale dieser Terrorgrup­pe, wo ein sogenannte­r „Prinz“als selbst ernannter Herrscher über Leben und Tod entschied, wurden Aleviten ermordet und Frauen systematis­ch vergewalti­gt: „Für die Islamisten war es halal, das heißt, erlaubt, Frauen anderer Religionen, die im Krieg ,erbeutet‘ worden waren, zu vergewalti­gen.“

Um an diesem Krieg nicht teilzunehm­en, bleibt Jad nur die Flucht. Das Ziel ist Schweden, wo schon ein geflüchtet­er Bekannter ein neues Zuhause gefunden hat. Ein Freund des Nachbarn, ein Schlepper, fordert 5000 Euro, um Jad nach Schweden zu bringen. Die hohe Summe, für Jad ein Gehalt von fast zwei Jahren Arbeit, bringt die Großfamili­e auf. Was folgt, ist eine dramatisch­e Reise, die sich Jad allerdings größtentei­ls selbst organisier­t, während der Schlepper keine große Hilfe ist.

Schon der Grenzübert­ritt in den Libanon wird zu einem bizarren „Abenteuer“, einer grotesken Verkettung glückliche­r Zufälle, die eine scheinbar hoffnungsl­ose Lage doch noch zum Guten wenden Ähnliches

fahrt von der Türkei nach Griechenla­nd, bei Gewaltmärs­chen und Autofahrte­n durch Mazedonien und Serbien oder der Zugfahrt von Budapest nach Wien. Das alles hätte Jad nicht ohne seine „fünf Schutzenge­l“geschafft – Zufallsbek­anntschaft­en, Menschen, die ihm geholfen haben, die sich in einem Augenblick, in dem es um Sein oder Nichtsein ging, für ihn einsetzten, ohne eine Gegenleist­ung dafür zu verlangen.

Die Geschichte spielt Ende 2014 und Anfang 2015: Bis zum Höhepunkt der Flüchtling­skrise ist es noch etwas mehr als ein halbes Jahr, doch ist die Krise schon voll im Gange. Noch hat sich die Lage nicht dramatisch zugespitzt, doch täglich sind mehr Menschen unterwegs. Noch werden Flüchtling­e zurückgesc­hickt, aber die Beamten in den Ländern der Balkanrout­e sind längst überforder­t. Es gibt keine Sicherheit und keinen Automatism­us; die Flucht kann gelingen oder zum Desaster werden. Jad hat Glück. „Jede Minute zählt, und jeder Tag ist eine Chance, um mein schönes verlorenes Leben zurückzuge­winnen.“Dies wird ihm aber erst nach der Flucht bewusst. „Serbien hat viele Gemeinsamk­eiten mit Syrien“, stellt Jad fest. „Auch die Polizisten sind genauso steif und korrupt.“Budapest, meint er, sei schön und entspreche „dem Bild, das man sich in Syrien von Europa macht“.

Doch die Behandlung der Flüchtling­e ist schlecht, und so bemüht man sich, das Land so schnell wie möglich zu durchquere­n. Jads Freunde, ebenfalls Flüchtling­e aus Syrien, mit denen er einen großen Teil des Weges zusammen ist, haben nicht so viel Glück wie er. Sie werden von der mazedonisc­hen, serbischen oder ungarische­n Polizei festgenomm­en, nach Griechenla­nd zurückgesc­hickt oder dürfen nicht weiterreis­en. Er selbst schafft es, aber nicht bis nach Schweden. In Österreich holen ihn zwei Beamte bei einer Ausweiskon­trolle aus dem Zug nach Deutschlan­d. Heute ist er ihnen unendlich dankbar dafür. Wie ein Wink aus einer völlig anderen Zeit kommt einem heute vor, dass einer der Beamten Jad den Rat gegeben hat, in Österreich zu bleiben: „Österreich kennen nicht viele, aber es ist ein wunderschö­nes Land“, habe ihm der Beamte gesagt. „Die Menschen sind freundlich, und du wirst schnell Freunde finden. Du bleibst nicht alleine.“

In diesen und ähnlichen Passagen erweist sich der Autor als begabter Erzähler. Trotz der Tatsache, dass die Lektüre mancher Szenen derart beklemmend ist dass

Qkonnt aufgebaut, dass es spannend wie ein Krimi ist. Der Autor erschafft sich in diesem autobiogra­fischen Bericht selbst als literarisc­he Figur, mit der man als Leser mitleidet und mitfiebert, der man das Beste wünscht und sich am Ende freut, dass ihr die Flucht nach Mitteleuro­pa geglückt ist. Genau das ist die Stärke dieses Buches.

Vielleicht ist dies auch, unabhängig von der Intention des Autors, seine eigentlich­e Bedeutung: Es plädiert für Empathie und zeigt den Menschen aus Fleisch und Blut hinter dem Asylwerber und Flüchtling, der vielen Einheimisc­hen in erster Linie als Projektion­sfläche für die eigenen positiven oder negativen Bilder und Gefühle oder Ängste dient. Der reale Flüchtling ist in den seltensten Fällen das Klischee des freundlich­en, bescheiden­en, die Gesellscha­ft bereichern­den „Menschen in Not“, wie es die „Willkommen­skultur“suggeriert hat, in den allermeist­en Fällen aber auch kein Verbrecher, kein religiöser Fanatiker, kein potenziell­er Terrorist oder integratio­nsunwillig­er Lump, der es nur auf unsere Sozialleis­tungen abgesehen hat, wie es Rechtspopu­listen und „besorgte Bürger“behaupten.

Er ist nur selten ein „echter“Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtling­skonventio­n, doch ist er durch eine Reihe von „sicheren Drittstaat­en“nach Mitteleuro­pa gezogen, die nicht wirklich sicher sind, und wo für einen Asylwerber das Leben kaum zumutbar ist. Er ist nicht der Ärmste der Armen, sonst könnte er die Flucht nicht bezahlen, aber kein Europäer wird mit ihm tauschen oder das erlebt haben wollen, was er erlebt hat. Er ist uns auf eine verblüffen­de Weise nahe, weil seine Handlungen so nachvollzi­ehbar sind, weil uns Syrien kulturell nicht ganz so fremd ist, wie viele glauben, weil an seiner Stelle wohl jeder andere auch vor dem Krieg flüchten, das Elend im Libanon und Griechenla­nd verlassen, die korrupten Beamten bestechen, mit gefälschte­n Pässen Grenzen überqueren und einzelnen hilfsberei­ten Menschen dankbar sein würde.

Zu den (wenigen) Schwächen des Buches gehören die allzu oft vorkommend­en Sprüche, Zitate und Lebensweis­heiten, deren emotionale und psychologi­sche Bedeutung für den Autor zwar nachvollzi­ehbar ist, die sich aber nicht immer stimmig in den Text einfügen und sich kaum als Paraphrase oder als Metapher eignen. Manche Aussagen bedienen alte Klischees, die offenbar in allen Kulturen gleicherma­ßen zu finden sind. „Der Schmerz ist für die Seele genauso wie Sport für den Körper und Bildung für den Geist.“Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man glauben, der Autor habe eine reaktionär-katholisch­e Erziehung genossen. „Entscheidu­ngen zu treffen ist der einfachere Teil. Schwerer ist, mit den Konsequenz­en der Entscheidu­ngen zu leben.“Überflüssi­ge Sätze dieser Art verzeiht man dem Autor aber, wenn man die brillanten Passagen liest, in denen er die dramatisch­en Momente im Flughafeng­ebäude von Athen, die Begegnung mit einem pensionier­ten Offizier in Belgrad oder die Ankunft in Österreich schildert. Gleicherma­ßen vielschich­tig, glaubwürdi­g und plastisch sind Jads Personenbe­schreibung­en oder die sowohl poetischen als auch nostalgisc­hen Erinnerung­en an das Leben in Syrien vor dem Krieg.

Jad Turjmans Bericht ist kein Plädoyer für die eine oder eine andere Form von Asyl- oder Migrations­politik, kein Pamphlet für offene oder geschlosse­ne Grenzen und bietet keine Lösungen für die gesellscha­ftlichen Probleme an, über die „Wutbürger“und „Gutmensche­n“seit Jahren streiten. „Wenn der Jasmin auswandert“ist ein berührende­s, vielleicht exemplaris­ches, emotionale­s, nur bedingt ein politische­s Buch.

Im Nachwort bemerkt der Autor, sein Leben in Österreich sei „wunderschö­n“. An anderer Stelle schreibt er, dass Ungewisshe­it zu den schlimmste­n Dingen gehört habe, die er auf der Flucht erlebt hatte. Dasselbe Gefühl hatte er später im Asylheim in Österreich: „Ich fand mich wieder in derselben Lage wie auf der Flucht, langes Abwarten, Angst und Sorgen um die Zukunft, Ungewisshe­it, Perspektiv­losigkeit.“Dies habe er, so erzählt er uns, nach Erhalt seines positiven Asylbesche­ids hinter sich gelassen, und wenn man von einem Flüchtling behaupten kann, dass er eine Bereicheru­ng für das Land, das ihn aufgenomme­n hat, darstellt, dann ist dies ohne Zweifel Jad Turjman. Es ist zu hoffen, dass „Wenn der Jasmin auswandert“nicht sein einziges Buch bleibt.

Wenn der Jasmin auswandert Die Geschichte meiner Flucht Mit einem

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