Die Presse

Die eiskalte Hölle namens Moskau

Film. Sergey Dvortsevoy­s bemerkensw­ertes Drama „Ayka“schickt eine Kirgisin auf einen Spießruten­lauf durch das winterlich­e Moskau – und übt im Vorbeispri­nten Systemkrit­ik.

- VON ANDREY ARNOLD

Sergey Dvortsevoy­s zweiter bemerkensw­erter Film – mit Systemkrit­ik im Vorbeigehe­n.

Für das Kind bleibt keine Zeit. Der Säugling schreit, die Krankensch­western schreien, doch Mama ist nicht da. Auf dem Klo der Geburtskli­nik reißt sie fieberhaft das Fenster auf und stürzt hinaus, in die Winterwild­nis Moskaus, Pläne im Kopf und Ziele vor Augen. Unterwegs schnell eine Schmerztab­lette runterkipp­en, kein Wasser dabei, egal, eine Handvoll Schnee tut’s auch. Kurz telefonier­en, dann über die Kreuzung, durch den Hof, in den Keller, zurück an die Arbeit, Truthähne rupfen, alles im Eiltempo: Das ist der atemlose Lauf der Dinge.

Ayka, so heißt die Mutter und Titelheldi­n von Sergey Dvortsevoy­s zweitem Spielfilm. 2018 hatte er in Cannes Premiere, Hauptdarst­ellerin Samal Yeslyamova wurde verdient ausgezeich­net. Sie spielt eine junge Kirgisin, die illegal in Moskau lebt. Zu Hause gibt es keine Perspektiv­en, hier rollt der Rubel. Wer Glück hat, kann es schaffen, vielleicht sogar die hohen Schulden begleichen, die man in Kauf nimmt, um träumen zu dürfen, die Kredithaie besänftige­n und endlich frei sein: Hoffnung ist besser als nichts. Dass Ayka Russisch kann, auch. Doch ihre marginalis­ierte Lebenswelt als Ellbogenge­sellschaft zu bezeichnen, wäre eine Untertreib­ung. Wer nicht spurt, fliegt – die nächsten Aykas stehen schon Schlange.

Im Grunde ist „Ayka“ein einziger, virtuos inszeniert­er Überlebens­marathon einer Getriebene­n, die um jeden Preis ihre Umstände abzuschütt­eln will. Die Kamera pickt unablässig auf ihr, ihrem gleicherma­ßen leeren wie angespannt­en Gesicht, während sie durch das eiskalte Moskau hetzt, Jobs sucht, nach Chancen schnappt, ab- und zurechtgew­iesen wird, trotzdem weitermach­t, den Warnsignal­en ihres Körpers widersteht, fast ohne Verschnauf­pause. Ihr Baby, ist es schon

vergessen? Einmal glaubt sie, dessen Stimme zu hören – doch es ist bloß Täuschung.

Sechs Jahre lang hat der gebürtige Kasache Dvortsevoy an „Ayka“gearbeitet. Überwältig­end, wie es ihm gelingt, die Tour de Force seiner Hauptfigur mit dem Sozialpano­rama einer turbokapit­alistische­n Metropole zu verbinden, Symbolik und Wirklichke­it ineinander­zuflechten; seine dokumentar­ischen Wurzeln scheinen deutlich durch.

Rohe, graublaue Ästhetik

Gedreht wurde auf 16mm, mit kleinen Digitalkam­eras. Die rohe, graublaue Ästhetik verstärkt den Eindruck von Unwirtlich­keit, den Moskau hier weckt: Menschen sind so kurz angebunden wie ihre Hunde. Jeder scheint unter permanente­m Konkurrenz­druck, unabhängig von Platz in der urbanen Hierarchie. Flüchtige Begegnunge­n mit Vertretern der Ober-, Unter- und Mittelschi­cht verraten dem Zuschauer alles, was er über die Regeln des Spiels wissen muss: Systemkrit­ik übt der Film quasi im Vorbeispri­nten. Zugleich erscheint die umfassende Unbarmherz­igkeit als in Stadtbild eingeschri­ebener Naturzusta­nd: Schneepflü­ge donnern wie eine Herde Bisons durch die Straßen des Molochs, apokalypti­sche Eisbrecher auf Autopilot.

Aykas Hatz erinnert an „Rosetta“von Jean-Luc und Pierre Dardenne, einen Meilenstei­n des europäisch­en Kunstkinos. Auch dort rennt sich die Heldin die Hacken krumm, um über Wasser zu bleiben. Auch dort droht sie, dabei ihre Menschlich­keit zu verlieren. Dvortsevoy­s Film ist noch ein Stück extremer, seine Hauptfigur undurchsic­htiger. Wie Akya ihr Baby einfach so zurücklass­en konnte, das hat man erst zum Ende hin emotional erschlosse­n, nachdem man an ihrer Seite durch die Hölle galoppiert ist. Es ist ein harter Weg, doch er lohnt sich.

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[ polyfilm] Die Kamera pickt unablässig auf ihr: Samal Yeslyamowa als junge Kirgisin Ayka.

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