Experiment plus heimlicher Spitzenkandidat
ÖVP. Für rund 70 Prozent der Wähler hatte die Regierungskrise keinen Einfluss auf ihre Wahlentscheidung. Spitzenkandidat Othmar Karas war allerdings auch kein starkes Wahlmotiv – im Gegensatz zu Sebastian Kurz.
Wien. Mit einem solchen Ergebnis hatten nicht einmal die Optimisten unter den ÖVPStrategen gerechnet. Man werde am Sonntag zwar den ersten Platz verteidigen, hieß es am Freitag aus der Partei. Aber ein ähnlicher Erfolg wie bei der Nationalratswahl, also 31,5 Prozent, sei unwahrscheinlich.
Es wurden dann – laut einer ersten Trendprognose – 34,5 Prozent. Was einem Plus von 7,5 Prozentpunkten und zwei Mandaten (bisher waren es fünf ) entspricht. Und vielleicht auch einem Statement im Hinblick auf den Misstrauensantrag gegen Kanzler Sebastian Kurz in der Nationalratssitzung am Montag (siehe Bericht auf Seite 2).
Wie lässt sich dieses ÖVP-Ergebnis erklären? Mit dem Ibiza-Video, über das zunächst Vizekanzler Heinz-Christian Strache und danach die türkis-blaue Regierung gestürzt war – möchte man meinen. Doch dem war nicht so. Rund 70 Prozent der Wähler gaben an, dass die Regierungskrise keinen Einfluss auf ihre Entscheidung hatte, wie die Wahltagsbefragungen von SORA (für den ORF) und Peter Hajek (für ATV) zeigten.
Möglicherweise war also der intern höchst umstrittene ÖVP-Wahlkampf erfolgreicher als es zuletzt schien. Die Parteispitze hatte sich entschlossen, bei dieser EU-Wahl ein Experiment zu wagen: Erstmals vergibt die Volkspartei ihre Mandate nicht anhand der Kandidatenliste, sondern nach der absoluten Zahl der Vorzugsstimmen. Das führte zu einem internen Match und offenbar zu einer Maximierung der Parteistimmen.
Welche ÖVP-Kandidaten die nunmehr sieben Mandate in Brüssel bekommen, wird erst am Montag klar sein. Er hoffe, wieder die meisten Vorzugsstimmen gesammelt zu haben, sagte Spitzenkandidat Othmar Karas am Sonntag. Dabei war Karas nicht unbedingt ein starkes Motiv für ÖVP-Wähler. Nur 18 Prozent gaben in der Hajek-Befragung an, dass der Spitzenkandidat „sehr wichtig“für ihre Wahlentscheidung war. Harald Vilimsky (FPÖ) und Andreas Schieder (SPÖ) schnitten hier – mit 34 bzw. 27 Prozent – deutlich besser ab. Hauptmotiv der ÖVP-Wähler war Tradition („Stammwähler“), gefolgt vom Programm, der „guten Arbeit der Bundespartei“, Erfahrung und Sebastian Kurz.
Kurz hatte die Bühne für sich allein
In der ÖVP-Zentrale wurde das am Sonntag anders interpretiert. Generalsekretär Karl Nehammer sprach – in Anspielung auf den möglichen Sturz des Kanzlers am Montag – von einem „starken Vertrauensvotum für Sebastian Kurz“, der für Stabilität stehe.
Jedenfalls war Kurz der heimliche Spitzenkandidat des ÖVP-Wahlkampfs. Gegen Ende hatte sich der Parteichef mehr und mehr eingeschaltet und eine Reform des EUVertrages gefordert, weil Karas und seine CoSpitzenkandidatin Karoline Edtstadler nicht im gewünschten Ausmaß mobilisierten. Mit dem Ibiza-Video war dann ohnehin alles anders. Die EU-Wahl trat in den Hintergrund, und Kurz hatte während der Regierungskrise die innenpolitische Bühne für sich allein.