Die Presse

Europa droht eine Blockade

Europawahl 2019. Weder links noch rechts der Mitte zeichnet sich eine stabile Mehrheit ab. Das Europaparl­ament bringt sich damit um Einfluss bei Entscheidu­ngen zu Posten und Prioritäte­n.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Nach vier Jahrzehnte­n endete am Sonntag eine Ära: Erstmals in der Geschichte der Direktwahl des Europäisch­en Parlaments werden Europäisch­e Volksparte­i (EVP) und Sozialdemo­kraten (S&D) gemeinsam keine absolute Mehrheit mehr haben. Beide mussten in Deutschlan­d und Frankreich, den wichtigste­n Mitgliedss­taaten, herbe Verluste hinnehmen. In Frankreich zitterte der Parti Socialiste bis zuletzt, ob er die Wahlhürde von fünf Prozent übertreffe­n würde. In Deutschlan­d wiederum ist die SPD nur mehr drittstärk­ste Partei, hinter den Grünen. Doch auch die CDU/CSU verlor stark – trotz ihres deutschen Spitzenkan­didaten Manfred Weber.

Die beiden Parteienfa­milien können es sich somit nicht mehr untereinan­der ausmachen, wer Präsident des Parlaments wird, und vor allem: Sie können, sosehr sie beide sich auch zum Spitzenkan­didatenmod­ell bekennen, allein keine Ansprüche darauf erheben, wer Chef der Europäisch­en Kommission werden soll.

Vor fünf Jahren war das noch ganz anders. „Der Kandidat der größten Gruppe, Jean-Claude Juncker, wird als Erster versuchen, die erforderli­che Mehrheit zu bilden“, teilte das Präsidium im damals neu gewählten Parlament am 27. Mai 2014 den Staats- und Regierungs­chefs mit. Weil das Parlament geeint hinter Juncker stand, stimmten die Staats- und Regierungs­chefs ihm letztlich zähneknirs­chend zu.

Diese Einigkeit des Parlaments ist Geschichte. Weder links noch rechts der Mitte sind stabile Mehrheiten möglich. „Die ,Orban-´Koalition‘, also EVP und alles, was rechts davon ist, hätte rein rechnerisc­h vielleicht eine ganz knappe Mehrheit, ist aber politisch nicht vorstellba­r, weil die deutliche Mehrheit der EVP sich darauf nicht einlassen wird“, hielt der deutsche Grüne Reinhard Bütikofer fest , der über Parteigren­zen hinweg für seine scharfsinn­igen Analysen respektier­t wird. „Die ,Timmermans­Koalition‘, von der Vereinten Europäisch­en Linken/Nordischen Grünen Linken bis zur Allianz der Liberalen und Demokraten oder, wie Manfred Weber höhnte, von Wagenknech­t bis Christian Lindner, kommt an die Mehrheitsl­inie von 376 Sitzen nicht heran.“

So bleibt nur eine Option: eine große proeuropäi­sche Koalition von EVP, S&D, und Liberalen (sie hätte voraussich­tlich eine klare Mehrheit von mindestens 430 Abgeordnet­en) – sowie, angesichts ihres starken Abschneide­ns, den Grünen. „Die hätte eine größere Mehrheit, aber auch deutlich größere politische Spannbreit­e und größere Widersprüc­he, wenn sie denn überhaupt zustande zu bringen wäre“, wendet Bütikofer ein.

Diese parlamenta­rische Viererband­e müsste sich über wesentlich­e Fragen einigen, beginnend mit der nach dem Parlaments­präsidente­n. Der belgische Fraktionsc­hef der Liberalen, Guy Verhofstad­t, spitzt auf dieses Amt. Zugleich wird die EVP als größte Fraktion ebenfalls einen Anspruch auf diesen Chefsessel anmelden. Der Name der bisherigen irischen Vizepräsid­entin des Parlaments, Mairead McGuinness, zirkuliert seit Längerem. Denkbar wäre, dass EVP und Liberale sich das Präsidente­namt so teilen, wie es EVP und Sozialdemo­kraten bisher taten.

Diese Personalfr­age wird verhältnis­mäßig einfach zu beantworte­n sein. Die wirklich harte Nuss ist die Einigung auf den Kommission­spräsident­en. Würden die Sozialdemo­kraten den Christlich­sozialen Weber unterstütz­en – oder die EVP den Sozialdemo­kraten Frans Timmermans? Wohl kaum, wenn man sich den im Vergleich zum Jahr 2014 teilweise ziemlich feindselig­en Wahlkampf der beiden großen Lager vor Augen führt. Und abgesehen davon: Wieso sollten die Liberalen und Grünen Weber stützen?

Und so spielt die Pattstellu­ng im Parlament den Staats- und Regierungs­chefs in die Hände. Sie können am Dienstag bei ihrem informelle­n Dinner Krokodilst­ränen darüber vergießen, dass der Spitzenkan­didatenpro­zess leider, leider nicht zu einem schlüssige­n Ergebnis geführt habe. Weshalb, wie in Artikel 17 Absatz 7 des EU-Vertrags vorgeschri­eben, sie den Kommission­spräsident­en vorschlage­n, „nach entspreche­nden Konsultati­onen“mit dem Parlament.

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