Europa droht eine Blockade
Europawahl 2019. Weder links noch rechts der Mitte zeichnet sich eine stabile Mehrheit ab. Das Europaparlament bringt sich damit um Einfluss bei Entscheidungen zu Posten und Prioritäten.
Nach vier Jahrzehnten endete am Sonntag eine Ära: Erstmals in der Geschichte der Direktwahl des Europäischen Parlaments werden Europäische Volkspartei (EVP) und Sozialdemokraten (S&D) gemeinsam keine absolute Mehrheit mehr haben. Beide mussten in Deutschland und Frankreich, den wichtigsten Mitgliedsstaaten, herbe Verluste hinnehmen. In Frankreich zitterte der Parti Socialiste bis zuletzt, ob er die Wahlhürde von fünf Prozent übertreffen würde. In Deutschland wiederum ist die SPD nur mehr drittstärkste Partei, hinter den Grünen. Doch auch die CDU/CSU verlor stark – trotz ihres deutschen Spitzenkandidaten Manfred Weber.
Die beiden Parteienfamilien können es sich somit nicht mehr untereinander ausmachen, wer Präsident des Parlaments wird, und vor allem: Sie können, sosehr sie beide sich auch zum Spitzenkandidatenmodell bekennen, allein keine Ansprüche darauf erheben, wer Chef der Europäischen Kommission werden soll.
Vor fünf Jahren war das noch ganz anders. „Der Kandidat der größten Gruppe, Jean-Claude Juncker, wird als Erster versuchen, die erforderliche Mehrheit zu bilden“, teilte das Präsidium im damals neu gewählten Parlament am 27. Mai 2014 den Staats- und Regierungschefs mit. Weil das Parlament geeint hinter Juncker stand, stimmten die Staats- und Regierungschefs ihm letztlich zähneknirschend zu.
Diese Einigkeit des Parlaments ist Geschichte. Weder links noch rechts der Mitte sind stabile Mehrheiten möglich. „Die ,Orban-´Koalition‘, also EVP und alles, was rechts davon ist, hätte rein rechnerisch vielleicht eine ganz knappe Mehrheit, ist aber politisch nicht vorstellbar, weil die deutliche Mehrheit der EVP sich darauf nicht einlassen wird“, hielt der deutsche Grüne Reinhard Bütikofer fest , der über Parteigrenzen hinweg für seine scharfsinnigen Analysen respektiert wird. „Die ,TimmermansKoalition‘, von der Vereinten Europäischen Linken/Nordischen Grünen Linken bis zur Allianz der Liberalen und Demokraten oder, wie Manfred Weber höhnte, von Wagenknecht bis Christian Lindner, kommt an die Mehrheitslinie von 376 Sitzen nicht heran.“
So bleibt nur eine Option: eine große proeuropäische Koalition von EVP, S&D, und Liberalen (sie hätte voraussichtlich eine klare Mehrheit von mindestens 430 Abgeordneten) – sowie, angesichts ihres starken Abschneidens, den Grünen. „Die hätte eine größere Mehrheit, aber auch deutlich größere politische Spannbreite und größere Widersprüche, wenn sie denn überhaupt zustande zu bringen wäre“, wendet Bütikofer ein.
Diese parlamentarische Viererbande müsste sich über wesentliche Fragen einigen, beginnend mit der nach dem Parlamentspräsidenten. Der belgische Fraktionschef der Liberalen, Guy Verhofstadt, spitzt auf dieses Amt. Zugleich wird die EVP als größte Fraktion ebenfalls einen Anspruch auf diesen Chefsessel anmelden. Der Name der bisherigen irischen Vizepräsidentin des Parlaments, Mairead McGuinness, zirkuliert seit Längerem. Denkbar wäre, dass EVP und Liberale sich das Präsidentenamt so teilen, wie es EVP und Sozialdemokraten bisher taten.
Diese Personalfrage wird verhältnismäßig einfach zu beantworten sein. Die wirklich harte Nuss ist die Einigung auf den Kommissionspräsidenten. Würden die Sozialdemokraten den Christlichsozialen Weber unterstützen – oder die EVP den Sozialdemokraten Frans Timmermans? Wohl kaum, wenn man sich den im Vergleich zum Jahr 2014 teilweise ziemlich feindseligen Wahlkampf der beiden großen Lager vor Augen führt. Und abgesehen davon: Wieso sollten die Liberalen und Grünen Weber stützen?
Und so spielt die Pattstellung im Parlament den Staats- und Regierungschefs in die Hände. Sie können am Dienstag bei ihrem informellen Dinner Krokodilstränen darüber vergießen, dass der Spitzenkandidatenprozess leider, leider nicht zu einem schlüssigen Ergebnis geführt habe. Weshalb, wie in Artikel 17 Absatz 7 des EU-Vertrags vorgeschrieben, sie den Kommissionspräsidenten vorschlagen, „nach entsprechenden Konsultationen“mit dem Parlament.