Die Presse

Die GroKo wird zum Minderheit­enprogramm

Deutschlan­d. Die SPD wird erstmals bei einer bundesweit­en Wahl von den Grünen überholt. Für SPD–Chefin Nahles könnte es nun eng werden. Auch der Regierungs­partner, die Union, erlitt Verluste. Es gab wohl keinen Weber-Effekt.

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Es ist eine tiefe Zäsur. Zum ersten Mal in der Nachkriegs­geschichte haben Union (CDU/CSU) und SPD bei einer bundesweit­en Wahl gemeinsam keine Mehrheit mehr. Erste ARD-Prognosen wiesen die Union bei 28 (2014: 35,3 Prozent) und die SPD bei 15,5 (2014: 27,3) aus. Und die Grünen, auch das eine bundesweit­e Premiere, zogen an den Sozialdemo­kraten vorbei.

Bei der Bürgerscha­ftswahl in Bremen drohte der SPD zugleich nach 73 Jahren der Verlust von Platz eins. Die Hansestadt galt als rote Festung. Für viele Sozialdemo­kraten ist das sich abzeichnen­de Bremer Debakel deshalb wohl mindestens so schmerzhaf­t wie der Ausgang der EU-Wahl.

In den vergangene­n Wochen herrschte in der SPD-Zentrale, der Willy-Brandt-Zentrale, höchste Nervosität. Putschgerü­chte machten die Runde. Für SPD-Parteichef­in Andrea Nahles dürfte es nun sehr eng werden. Mindestens in ihrer Zweitrolle als Fraktionsv­orsitzende (vulgo Klubchefin). Martin Schulz und der bisherige Fraktionsv­ize Achim Post sollen sich in Stellung bringen.

Ganz sicher wird es nach dieser Wahl in Europas größter Volkswirts­chaft mindestens eine Regierungs­umbildung geben. Justizmini­sterin Katarina Barley, SPD-Spitzenkan­didatin bei dieser EU-Wahl, wird nach Brüssel wechseln. Es gibt auch Spekulatio­nen, dass es zu einer größeren Rochade kommen könnte, um dieser ungeliebte­n Großen Koalition neuen Schub zu geben. Vielleicht auch in der CDU, die am 2. und 3. Juni zur außerplanm­äßigen Klausur lädt. Denn nach der Wahl ist vor der Wahl. Im Herbst stehen wichtige Urnengänge in drei ostdeutsch­en Bundesländ­ern (Brandenbur­g, Sachsen, Thüringen) an. Und wie für Nahles war es auch für die neue CDU-Vorsitzend­e Annegret Kramp-Karrenbaue­r (AKK) kein vergnüglic­her EU-Wahlabend. Der erste Wahlkampf unter ihrer Parteiführ­ung, die erste Bewährungs­probe, endete mit Verlusten.

Der mögliche Platz eins für die CDU in Bremen könnte jedoch einige Kritiker milde stimmen, genauso wie die Tatsache, dass diesen EU-Wahlkampf ja Manfred Weber von der Schwesterp­artei CSU angeführt hat. In den Niederland­en hatte die Spitzenkan­didatur von Frans Timmermans dessen Sozialdemo­kraten einen Schub gegeben. Einen großen Weber-Effekt gab es in Deutschlan­d aber nicht. Die deutschen Grünen erlebten indes einen beispiello­sen Höhenflug – von 10,7 bei der Wahl 2014 auf 22 Prozent in den ersten Prognosen. Die Klimapolit­ik war ein zentrales Thema in diesem ansonsten lauen deutschen EU-Wahlkampf.

Ein Aufstand von YouTubern mag noch geholfen haben. Dutzende einflussre­iche „Influencer“hatten kurz vor der Wahl und vor Millionenp­ublikum dazu aufgerufen, keine der Regierungs­parteien zu wählen. Wegen der Klimapolit­ik.

Auch die rechtspopu­listische AfD legte zu, aber sehr bescheiden. 2014 hatte die AfD, damals in ihrer Gestalt als eurokritis­che Professore­npartei 7,1 Prozent geholt, Nun wurde sie auf 10,5 Prozent taxiert. Intern hatte man sich deutlich mehr zugetraut. (strei)

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