Die Presse

Wiener Dokument mit weltweiter Geltung

Völkerrech­t. Das vor 50 Jahren abgeschlos­sene Wiener Übereinkom­men über das Recht der Verträge bietet eine wichtige Grundlage der rechtliche­n Beziehunge­n zwischen Staaten. Und zwischen Österreich­s Bund und den Ländern.

- VON GERHARD HAFNER, AUGUST REINISCH UND HELMUT TICHY Gerhard Hafner war, August Reinisch ist Mitglied der UN-Völkerrech­tskommissi­on, Helmut Tichy leitet das Völkerrech­tsbüro des Außenminis­teriums.

Es ist fünfzig Jahre her, dass am 22. Mai 1969 das Wiener Übereinkom­men über das Recht der Verträge (Wiener Vertragsre­chtskonven­tion – WVK) mit 79 Stimmen bei 19 Enthaltung­en und einer Gegenstimm­e (Frankreich) angenommen und am 23. Mai zur Unterzeich­nung aufgelegt wurde. Am Ende der zweiten Session der von den Vereinten Nationen einberufen­en Wiener Kodifikati­onskonfere­nz wurde damit ein grundlegen­des Instrument zur Regelung des völkerrech­tlichen Vertragsre­chts fertiggest­ellt, das bis heute ein wesentlich­es Fundament der internatio­nalen Beziehunge­n bildet.

Es gelang der Konferenz zwar nicht ganz, aber doch weitgehend, die wegen der militärisc­hen Interventi­on der Warschauer-Pakt-Staaten in der Tschechosl­owakei im August 1968 sowie der Herausbild­ung der Breschnjew-Doktrin erhöhten Ost-West-Spannungen auszublend­en.

Es ist strittig, wie weit die WVK das zur Zeit ihrer Entstehung vorliegend­e Völkergewo­hnheitsrec­ht festschrie­b oder davon abwich. Wenn auch die UN-Völkerrech­tskommissi­on mit ihren Vorarbeite­n bereits auf etablierte­r Praxis der Staatengem­einschaft und früheren Entwürfen aufbauen konnte, fehlte in einigen Bereichen eine einheitlic­he Übung: bei Vorbehalte­n zu Verträgen etwa, den Auslegungs­regeln und dem zwingenden Recht (Ius cogens). Also musste die Konferenz neue Lösungen finden. Doch hat sich seit 1969 die Staatenpra­xis aufbauend auf der WVK stark verfestigt: Internatio­nale Instanzen (wie der Internatio­nale Gerichtsho­f oder jener der EU) wie auch nationale (wie der VfGH) können sich damit auf die WVK als Wiedergabe von allgemeine­m Völkergewo­hnheitsrec­ht berufen.

Im Zentrum steht das Prinzip der Vertragstr­eue (Pacta sunt servanda). Bei der Gestaltung der Verträge ist die Konvention relativ flexibel, indem sie dem Willen der Vertragspa­rteien Vorrang einräumt. Sie ist nur auf schriftlic­he Verträge zwischen Staaten anwendbar, die nach ihrem Inkrafttre­ten abgeschlos­sen wurden.

Die WVK regelt den Abschluss und das Inkrafttre­ten völkerrech­tlicher Verträge einschließ­lich der Vorbehalte und der vorläufige­n Anwendung, die Einhaltung, Anwendung und Auslegung von Verträgen sowie ihre Wirkung auf Drittstaat­en und die Änderung, die Ungültigke­it, Beendigung und Suspendier­ung von Verträgen und schließlic­h die Rolle des Depositärs bei Notifikati­onen, der Berichtigu­ngen und der Registrier­ung von Verträgen.

Bei Vertragsab­schlüssen vermutet die WVK die Kompetenz von Staatsober­häuptern, Regierungs­chefs und Außenminis­tern, ohne ausdrückli­che Vollmacht für ihren Staat bindende vertragsre­chtliche Akte vornehmen zu können. Sie verpflicht­et Staaten, nach Unterzeich­nung, aber vor Inkrafttre­ten eines Vertrags dessen Ziel und Zweck nicht zu vereiteln. Das schwierige Problem der Vorbehalte zu Verträgen löste die WVK in einer von den kommunisti­schen Staaten beeinfluss­ten flexiblen und etwas unklaren Weise, die sehr viele Vorbehalte zulässt und zur Relativitä­t der Vertragsbe­ziehungen beiträgt.

Den alten Streit zwischen subjektive­r und objektiver, am Vertragste­xt ausgericht­eter Auslegung entscheide­t die WVK zugunsten des zweiten Ansatzes, verbunden mit der Orientieru­ng an Ziel und Zweck des Vertrags. Diese ist oft von großem Vorteil, weil in multilater­alen Verhandlun­gen vielfach Verhandlun­gsprotokol­le fehlen.

Als Gründe für die Ungültigke­it von Verträgen führt die WVK insbesonde­re die offenkundi­ge Verletzung einer grundlegen­den innerstaat­lichen Vorschrift beim Abschluss des Vertrags, Irrtum, Betrug, Bestechung, Zwang gegen einen Staatenver­treter, (bewaffnete) Gewalt gegen den Staat an. Dazu kommt – und dies ist von grundlegen­der Bedeutung für das System des Völkerrech­ts – der Verstoß gegen eine zwingende völkerrech­tliche Norm. Die in jüngster Zeit begonnene Diskussion der ILC über dieses Thema ist zwar noch nicht beendet, doch ist bereits eine allgemeine Akzeptanz des zwingenden Rechts als besonderer Normenkate­gorie erkennbar. 1969 hat Frankreich wegen der damit verbundene­n Unklarheit noch gegen den WVK-Text gestimmt.

Verträge können einseitig beendet oder suspendier­t werden, wenn sie dies ausdrückli­ch vorsehen (was beim EU-Vertrag seit dem Lissabonne­r Vertrag der Fall ist, siehe Brexit), es sich aus ihrem Inhalt erschließe­n lässt, wenn eine erhebliche Vertragsve­rletzung vorliegt, die Erfüllung unmöglich wird oder sich die Umstände in nicht vorhergese­hener Weise grundlegen­d geändert haben. Bei einer Verletzung multilater­aler Verträge bilden die Vertragspa­rteien eine Gemeinscha­ft: Sie können, abgesehen vom durch die Verletzung besonders betroffene­n Staat oder bei besonderen Verträgen, gemeinsam gegenüber dem verletzend­en Staat handeln.

Beim Verfahren zur Geltendmac­hung der Ungültigke­it oder Beendigung eines Vertrags standen auf der Wiener Konferenz einander zwei Ansichten diametral gegenüber: das Verlangen nach einer obligatori­schen gerichtlic­hen Streitbeil­egung und dessen klare Ablehnung vor allem seitens der kommunisti­schen Staaten. Eine Einigung war lediglich durch den Kompromiss eines obligatori­schen Vergleichs­verfahrens und der Beschränku­ng der Zuständigk­eit des Internatio­nalen Gerichtsho­fs auf Geltendmac­hung von zwingendem Recht zu erzielen, doch wurden selbst hierzu später zahlreiche Vorbehalte eingelegt.

Ein Zugeständn­is an die politische Situation findet sich in der Bestimmung, welche Staaten Vertragspa­rteien der WVK werden können. Die „Wiener Formel“war derart formuliert, dass Staaten wie die DDR ausgeschlo­ssen blieben. Die kommunisti­schen Staaten hatten sich dagegen auf die Universali­tät berufen und konnten nur mithilfe einer Resolution der Konferenz zur Universali­tät davon abgehalten werden, gegen die Formel zu stimmen.

Österreich hat die WVK 1979 ratifizier­t. Für Österreich ist sie insofern von zusätzlich­er Bedeutung, als auf 15a-Vereinbaru­ngen (zwischen Bund und Ländern) die Grundsätze des völkerrech­tlichen Vertragsre­chts anzuwenden sind. Diese Grundsätze werden weithin der WVK entnommen.

Da die WVK einen bedeutende­n Bereich der rechtliche­n Grundlagen der internatio­nalen Beziehunge­n außer Streit stellt, trägt sie wesentlich zu deren Stabilität bei. Selbst wenn Staaten vorgeworfe­n wird, Verträge zu verletzen, berufen sie sich zu ihrer Rechtferti­gung immer wieder auf die WVK. Wenn auch derzeit „nur“116 Staaten Parteien der WVK sind, wirkt sie, von Gerichten als Wiedergabe des universell­en Völkergewo­hnheitsrec­hts verstanden, weit darüber hinaus.

Es mag sein, dass die WVK einige Materien nicht regelt. Sie ist dennoch bereits seit einem halben Jahrhunder­t ein zentrales, tragfähige­s und stabiles Fundament der politische­n und rechtliche­n internatio­nalen Beziehunge­n.

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