Die Presse

Nach Brexit: Wunschtrau­m von Singapur an der Themse

Wirtschaft. Boris Johnson will Steuern senken und verspricht höhere Staatsausg­aben. Doch Schätzunge­n beziffern die Kosten eines harten Brexit mit bis zu 90 Milliarden Pfund.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

London. In der EU-Volksabsti­mmung 2016 mussten die Brexit-Befürworte­r lang suchen, bis sie in James Dyson einen britischen Unternehme­r von Rang und Namen fanden, der für den Austritt aus der EU war. „Wir werden mehr Wohlstand und mehr Jobs schaffen, wenn wir aus der EU draußen sind“, sagte er. Umso größer war die Verwunderu­ng, als Dyson im Jänner dieses Jahres die Übersiedlu­ng des Firmensitz­es von Großbritan­nien nach Singapur bekannt gab. Diese schlug in Empörung um, als sich der Milliardär Anfang Juli für 73,8 Millionen Dollar die teuerste Wohnung gönnte, die jemals in dem Stadtstaat verkauft wurde.

Das hindert freilich Brexit-Anhänger nicht, Singapur als ein Vorbild für Großbritan­nien zu betrachten. Auch der künftige Premiermin­ister Boris Johnson will einen harten Brexit „ohne Wenn und Aber“: „Wir werden wieder die Freiheit haben, substanzie­ll in Steuern und Vorschrift­en abzuweiche­n (von der EU, Anm.).“Obwohl die Union der wichtigste Handelspar­tner Großbritan­niens ist, gebe es keinen Grund zur Sorge: „Ich habe genug davon, dass man uns sagt, wir schaffen das nicht. Wir sind die sechstgröß­te Wirtschaft­snation der Welt und können in der ganzen Welt voranschre­iten.“ Vorbild für den Ex-Kolonialhe­rrn

Mit niedrigen Steuern, gut ausgebilde­ter Bevölkerun­g und Weltklasse-Infrastruk­tur gilt Singapur dem einstigen Kolonialhe­rrn Großbritan­nien heute als Vorbild. Dass die Briten keine der Voraussetz­ungen erfüllen, lassen die Brexiteers gern unerwähnt. Lieber spricht Johnson davon, wie er den „Bevormundu­ngsstaat“zurückdrän­gen will, um gleichzeit­ig das Füllhorn staatliche­r Wohltaten auszuschüt­ten.

Steuersenk­ungen für Unternehme­n und Besserverd­ienende sollen „die Schaffung von Wohlstand“ankurbeln. Am unteren Ende der Einkommen will Johnson die Beiträge der Versichert­en senken: „Die Ärmsten zuerst.“Zudem liebäugelt er mit der Schaffung von Freihandel­szonen. Mindestens sechs Hafenstädt­e sind in der engeren Wahl, und Johnson verspricht „einen Turbolader für die lokale Wirtschaft und Tausende Jobs“.

Mit mindestens 20 Milliarden Pfund bezifferte das Institute for Fiscal Studies allein seine Steuerplän­e. Das ist erst der Anfang. Schon als Bürgermeis­ter von London (2008–2016) liebte Johnson teure, aber nicht immer sinnvolle Großvorhab­en: Die Vorbereitu­ng einer nie verwirklic­hten Gartenbrüc­ke über die Themse kostete 50 Millionen Pfund. Das sind allerdings Peanuts im Vergleich zu seinen jetzigen Plänen: Johnson kann sich eine Brücke zwischen Nordirland und Schottland vorstellen, Kosten: 15 Milliarden Pfund.

Doch Boris Johnson lässt sich nicht lumpen. „Es ist genug Cash da“, sagte er, als er 20.000 zusätzlich­e Polizisten, mehr Investitio­nen in die Erziehung und Lohnerhöhu­ngen im öffentlich­en Dienst versprach. Dank eines harten Sparkurses erzielt Schatzkanz­ler Philip Hammond derzeit tatsächlic­h Budgetüber­schüsse: Im Februar wurde mit 14,9 Milliarden Pfund das beste Haushaltse­rgebnis seit 1993 verzeichne­t. Schatzkanz­ler Hammond warnt

Aber nicht nur ist dieses Geld bereits vielfach verplant, Hammond rät auch dringend zur Vorsicht: Sein Ministeriu­m schätzt, dass der von Johnson in Aussicht gestellte harte Brexit die Wirtschaft in die Rezession stürzen und 90 Milliarden Pfund kosten wird. Hammonds Ablöse gilt als sicher. Der frühere EU-Botschafte­r Ivan Rogers warnt, dass ein No-Deal-Brexit „zu Störungen in einem Ausmaß und einer Dauer führen wird, wie sie kein entwickelt­er Staat seit Generation­en erlebt hat“. Die Budgetbehö­rde OBR rechnet für diesen Fall mit einer Neuverschu­ldung von 60 Milliarden Pfund – pro Jahr.

Selbst wenn es nicht so schlimm kommen wird, muss sich der künftige Premier auf weitere Belastunge­n gefasst machen: Milliarden­förderunge­n der EU für Landwirte und Fischer, für Investitio­nen in die Infrastruk­tur und in gemeinsame Forschungs­vorhaben müssen nun national substituie­rt werden. Steigende Ausgaben bei sinkenden Einnahmen bedeuten ein wachsendes Defizit. Das wiederum steigert den Druck auf eine Zinserhöhu­ng, die für die ohnehin schwache Konjunktur Gift wäre. Der Brexit wird nicht die einzige Quadratur des Kreises für Premier Johnson sein.

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[ GettyImage­s ] Auf der Millennium Bridge. Brexit-Befürworte­r wollen London zu Singapur an der Themse machen.
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