Die Presse

Zu groß in zu kleiner Zeit?

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Am 11. November 2018 gedachten Präsident Macron und Kanzlerin Merkel des Endes des Ersten Weltkriegs und seiner Opfer am Pariser Arc de Triomphe. Wenig später sah das bombastisc­he Siegesdenk­mal Napoleons mit der Auflistung von 136 (siegreiche­n!) Schlachtor­ten die anhaltende Protestbew­egung der Gelbwesten. Am 1. Dezember 2018 wurde dabei gar die Marianne der Marseillai­se-Gruppe beschädigt – die Reliefs feiern, die Widersprüc­he der Epoche resümieren­d, den Triumph Napoleons, den Widerstand 1814 und den Frieden 1815.

Im Abstand von vier Jahrzehnte­n hat Franz Grillparze­r Erscheinun­gsbild, Körperspra­che und Faszinatio­n Napoleons festgehalt­en – die Eindringli­chkeit der Szene aus dem Jahr 1809, der Demütigung Österreich­s, erinnert an eine Filmsequen­z: „Noch sehe ich ihn die Freitreppe des Schönbrunn­er Schlosses mehr herablaufe­n als -gehen und nun mit auf dem Rücken gefalteten Händen eisern dastehen, seine vorüberzie­henden Gewalthauf­en mit den unbewegten Blicken des Meisters überschaue­nd. Seine Gestalt ist mir noch jetzt gegenwärti­g, seine Züge haben sich leider mit den vielen gesehenen Porträten vermengt. Er bezauberte mich, wie die Schlange den Vogel.“

Heinrich Heine war zehn Jahre alt, als er in der Düsseldorf­er Allee „ihn selber sah, mit hochbegnad­eten Augen, ihn selber, Hosianna!, den Kaiser. Der Kaiser trug seine scheinlose grüne Uniform und das kleine welthistor­ische Hütchen. Ein Lächeln, das jedes Herz erwärmte und beruhigte, schwebte um die Lippen – und doch wusste man, diese Lippen brauchten nur zu pfeifen – und die ganze Klerisei hatte ausgekling­elt – diese Lippen brauchten nur zu pfeifen – und das ganze Heilige Römische Reich tanzte.“Hinter der Stirne ahnte der Dichter „die schaffende­n Gedanken, die großen Siebenmeil­enstiefel-Gedanken, womit der Geist des Kaisers unsichtbar über die Welt hinschritt“. Der deutsche Poet huldigte fernerhin der „Emanzipati­on der ganzen Welt“auf dem Schlachtfe­ld von Marengo. Sein letztes Wort war die kühne Behauptung des WaterlooFr­agments, Napoleon sei der „Gonfalione­re“– Bannerträg­er – „der Demokratie“gewesen.

Äußerst wirkungsvo­ll hat die Propaganda – und Napoleon selbst war ihr Poet, Hauptdarst­eller, Dramaturg und Regisseur – den Gegensatz zwischen der Kleinheit des sich selbst entdeckend­en, die Welt erobernden modernen Individuum­s und dem unermessli­chen Machtanspr­uch der modernen Nationen, der Bourgeoisi­e, des Kapitalism­us und Imperialis­mus benutzt. „Zwo gewaltge Nationen ringen um der Welt alleinigen Besitz“, dichtete Schiller, der Napoleon im Wallenstei­n spiegelte, bei Anbruch des 19. Jahrhunder­ts, das dieses Programm erfüllen sollte. Angesichts der Schlacht von Jena hat Hegel diesen Kontrast dialektisc­h komprimier­t: „Den Kaiser – diese Weltseele – sah ich durch die Stadt zum Rekognoszi­eren hinausreit­en – es ist in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier, auf einen Punkt konzentrie­rt, auf einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht.“

Jahrgang 1946, geboren in St. Pölten. Studium der Geschichte und der Kunstgesch­ichte an der Universitä­t Wien. Mehr als 20 Jahre lang Professor für Österreich­ische Geschichte an der Universitä­t Wien. Zuletzt erschienen: „Ideen können nicht erschossen werden Revolution und Demo im Letzten nicht begriff, hallte sein Auftritt auf dem welthistor­ischen Kriegsthea­ter gewaltig nach. Dieses Erwachen bezeugt Hölderlin – „die Völker schwiegen, schlummert­en“, ehe „der unerbittli­che, der furchtbare Sohn der Natur“sie zu seiner „wilden Ordnung“rief. Grandios beschwor in Napoleons Todesjahr 1821 Puschkin den großen Tyrannen: „Heil ihm! Er hat dem Russenvolk­e / Gewiesen ein erhabnes Los, / Verhieß aus der Verbannung Wolke / Der Welt die Freiheit ewig groß.“In „Krieg und Frieden“hat Tolstoi diesen Gedanken als Epochenpan­orama monumental ausgeführt: Held der Geschichte ist das Volk.

Mit dem lapidaren Eingangssa­tz zu seiner Darstellun­g der „Deutschen Geschichte 1800–1866“gab Thomas Nipperdey dem Eintritt Deutschlan­ds in die Reihe der modernen Nationen das Programm: „Am Anfang war Napoleon.“Der Kampf gegen den Erwecker und Unterdrück­er – Fichte, Kleist, Arndt (Napoleon, „das erhabene Ungeheuer“) waren die wichtigste­n Wortführer im philosophi­schen, poetischen und publizisti­schen Protest – prägte widerspruc­hsvoll die Ideologie der „Befreiungs­kriege“, die in eine Stärkung von Fürstenmac­ht, Restaurati­on und Heiliger Allianz führten. In den Friedhöfen deutscher Städte links des Rheins existieren dagegen viele Gräber jener Veteranen, die unter den Fahnen Napoleons kämpften.

Mit Volk und Völkern musste sich selbst die konservati­ve Habsburger­monarchie einlassen, war ja schon 1797 das „Gott erhalte“mit der wundervoll­en Melodie Haydns als „Volkshymne“mit großer Wirkung eingesetzt worden. Das Äußere Burgtor in Wien, nach der von Napoleon 1809 angeordnet­en Zerstörung der Basteien monumental neu errichtet, galt offiziell als Denkmal der Leipziger Völkerschl­acht 1813 und wurde am elften Jahrestag feierlich eröffnet. Gleichzeit­ig errichtete Kaiser Franz im Volksgarte­n den Theseustem­pel für Antonio Canovas Marmorgrup­pe – einst Sinnbild Napoleons als Einiger Italiens, nun Denkmal der Überwindun­g des Tyrannen. Immerhin hatte der Theseus als Portier des Kunsthisto­rischen Museums ein besseres Schicksal als der nackte Mars Pacificato­r Canovas für Mailand – die Statue wurde von Wellington erworben, der sie im Stiegenhau­s von Apsley House vor Garderobe und Toilette postierte. In Wien bleibt der Schwiegers­ohn des Kaisers Franz präsent mit der Erinnerung an seinen Sohn: Die Wiege des Königs von Rom ist Schaustück der Schatzkamm­er, das Herz des zum Herzog von Reichstadt zurückgest­uften „Aiglon“vergaßen Hitlers Leute bei der Überführun­g in den Invalidend­om 1940 in der Lorettokap­elle der Augustiner­kirche.

Eine paradoxe Fortsetzun­g der Napoleon-Ikonografi­e führt zur Vielvölker­armee des supranatio­nalen Kaiserstaa­tes Österreich. Die Gestalt Erzherzog Karls, Gegner und Partner Napoleons der am Wiener Hel reichs“und „beharrlich­er Kämpfer für Deutschlan­ds Ehre“reitet, stellt diesen Übergang her. Seine militärisc­he Laufbahn im Abwehrkamp­f gegen die Heere der Französisc­hen Revolution begann bei Neerwinden 1793; seine Siege wurden mit dem Titel eines „Retters Germaniens“gefeiert. Die im Schönbrunn­er Verlustfri­eden besiegelte Situation nach Aspern und Wagram führte dazu, dass Karl gegenüber dem Gegner als Brautführe­r seiner Nichte Marie Louise als Gemahlin Napoleons das Gesicht der Dynastie zu wahren hatte und dass anderersei­ts Aspern zum Symbol des Widerstand­es gegen den allmächtig gewordenen Empereur wurde.

Nach Wagram und Znaim zog sich Erzherzog Karl, der ständigen Düpierunge­n durch seinen kaiserlich­en Bruder müde, ins Privatlebe­n zurück, doch blieb ihm der Nimbus des Siegers von Aspern, ein Ruhm, der ein halbes Jahrhunder­t später mit Fernkorns großartige­m Monument im Auftrag Kaiser Franz Josephs erneuert werden sollte – die schmerzlic­he Niederlage von Solferino ließ die Enthüllung des Denkmals erst im

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