Präsident Selenskij konsolidiert seine Macht in der Ukraine
Parlamentswahl. Erste Umfragen deuteten auf klaren Sieg der Partei des Präsidenten Wolodymyr Selenskij hin. Doch das Regieren könnte schwieriger werden als gedacht.
Offiziell ist es natürlich keine Wahlkampftour gewesen. Präsident Wolodymyr Selenskij reiste in den vergangenen Wochen kreuz und quer durch die Ukraine und inszenierte sich dabei als Macher: Er warf untätige Beamte aus Sitzungen, feuerte Gouverneure, ärgerte sich über den fehlenden Baufortschritt bei Infrastrukturprojekten und legte mehreren Beamten nahe, besser früher als später ihr Kündigungsschreiben aufzusetzen.
Der betont kernige Auftritt sollte wettmachen, was dem Staatschef seit seinem Amtsantritt im Mai gefehlt hat. Denn im Parlament und in der Regierung hatte Selenskij bisher keine Hausmacht. Das bekam er zu spüren: Die Abgeordneten ignorierten Gesetzesinitiativen oder lehnten Personalvorschläge des Präsidialamtes ab. Zwischen dem Präsidialamt und dem Außenministerium entbrannte ein Streit über die außenpolitischen Kompetenzen, nachdem das Außenministerium im Alleingang Moskau im Streit um die ukrainischen Seeleute mit einer diplomatischen Note geantwortet hatte. Doch mit der gestrigen Parlamentswahl kann Selenskij vorläufigen Daten zufolge seine Macht konsolidieren.
Das Comeback der Kreml-Freunde
Das bunte Lager des mit einer Mehrheit von 73 Prozent ins Amt gewählten Ex-Comedian stand gestern vor einem Erdrutschsieg. In sozialen Medien kursierende Exit Polls deuteten am Sonntagnachmittag auf einen klaren Sieg von Selenskijs Partei „Diener des Volkes“mit mehr als 40 Prozent der Stimmen hin. An zweiter Stelle bei rund 15 Prozent lag die prorussische „Oppositionsplattform – Für das Leben“. Ihre Vertreter Jurij Bojko sowie Medienunternehmer und Putin-Freund Viktor Medwedtschuk haben sich als Entspannungspolitiker mit guten Kontakten in den Kreml inszeniert. Zuletzt fischte man mit der Ankündigung eines möglichen Gefangenenaustausches mit Russland nach Stimmen. Mit Putin war Medwedtschuk vor ein paar Tagen in St. Petersburg zusammengekommen – ein Treffen, auf das Selenskij indes noch warten muss. Den inoffiziellen Umfragen zufolge sollten auch Julia Timoschenkos Vaterlandspartei, Petro Poroschenkos „Europäische Solidarität“und womöglich die proeuropäische Kraft Holos den Einzug ins Parlament schaffen.
Aussagen bezüglich des Mehrheitsverhältnisses im Parlament waren gestern schwierig aufgrund des gemischten Systems aus Listenplätzen und Einerwahlkreisen.
Insbesondere bei als „unabhängig“antretenden Mandataren gilt als offen, wie sie sich politisch verhalten werden. Bedingt durch das Wahlsystem werden 225 Parlamentsmandate über Parteilisten vergeben, 199 Mandate gehen an die Sieger in Einerwahlkreisen. 26 Sitze bleiben, bedingt durch die Annexion der Krim und den Kontrollverlust in Teilen des Donbass, unbesetzt.
„Professioneller Ökonom“als Premier
Als Optionen erschienen sowohl eine absolute Mehrheit für Selenskijs Lager als auch eine Koalitionsregierung. Zur Auswahl stehen mehrere Kräfte: Am unkompliziertesten (aber auch instabil und politisch umstritten) wäre es, mehrere unabhängige Mandatare für eine Zusammenarbeit zu gewinnen. Reformorientierte Wähler dürften auf eine Kooperation mit Holos hoffen, deren Gründer der Rocksänger und Zivilgesellschaftsaktivist Swjatoslaw Wakartschuk ist.
Was die künftige Ämterverteilung angeht, wollten sich Selenskijs Anhänger am Wahltag noch nicht in die Karten blicken lassen. Der Staatschef äußerte sich bei der Stimmabgabe zu einem künftigen Premierminister: „Er muss ein professioneller Ökonom sein. Ich möchte, dass das ein unabhängiger Mensch ist, jemand, der nie Premierminister, Parlamentspräsident oder Fraktionsführer im Parlament war.“Er führe diesbezügliche Konsultationen. Dem Vernehmen nach kommt der ins Selenskij-Lager gewechselte wirtschaftsliberale Reformer und frühere Finanzminister Olexander Daniljuk (43) für den Posten infrage. Als Koalitionspartner seien indes nur Kräfte mit „neuen Gesichtern“im Rennen, sagte er. Der Spitzenkandidat von „Diener des Volkes“, Dmytro Rasumkow, wird als möglicher Parlamentspräsident gehandelt.
„Dritter Durchgang“der Wahlen
Rasumkow bezeichnete am Sonntag die Parlamentswahlen einmal mehr als „dritten Durchgang“der Präsidentschaftswahlen. Der Präsident und sein Team hätten nach dem Wahlsieg im April verstanden, dass ihre Arbeit schwierig werden würde. Das Ausmaß an rechtlichem Nihilismus und fehlendem Verantwortungsgefühl bei Ministern habe man aber nicht erwartet, schilderte Rasumkow. „Daher sind wir zur Überzeugung gelangt, das System insgesamt zu ändern“, sagte er. Ob dieser angekündigte Neustart der Ukraine gelingt, wird bald zu sehen sein.