Die Presse

Von Gewinnmitn­ahmen ist schon so mancher arm geworden

Soll man Aktien verkaufen, wenn man stark im Plus ist? Das mag zwar der Selbstbest­ätigung dienen. Eine gute Strategie ist es aber nicht.

- VON BEATE LAMMER E-Mails an: beate.lammer@diepresse.com

Aktionäre orientiere­n sich gern am eigenen Kaufpreis, um festzustel­len, ob eine Aktie teuer oder billig ist.

Eine alte Börsenweis­heit lautet, dass von Gewinnmitn­ahmen noch keiner arm geworden sei. Wessen Aktien gestiegen sind, der soll demnach nicht zu gierig werden, sondern die Gewinne realisiere­n. Also seine Schäfchen ins Trockene bringen, bevor die Kurse wieder fallen.

Das mag in einzelnen Fällen durchaus ratsam sein: etwa wenn jemand ein einziges Investment getätigt hat, damit im Plus ist und das Geld jetzt anderweiti­g benötigt – zum Beispiel für einen Wohnungska­uf. Dann wäre es unvernünft­ig, abzuwarten, ob die Aktien noch weiter steigen.

In den meisten anderen Fällen ist der Rat jedoch so nützlich wie die Börsenrege­l „Buy Low, Sell High“(Kaufe billig, verkaufe teuer). Das wäre schön, wenn das immer gelänge. Aber wann ist eine Aktie billig oder teuer? Und wann ist eine Aktie so

stark gestiegen, dass man sie verkaufen muss? Nehmen wir den Kreditkart­endienstle­ister Visa. Dessen Aktie ist im Jahr 2017 um 46 Prozent gestiegen. In diesem Jahr war Visa der drittbeste Dow-Jones-Wert. Das Jahr war aber generell ein gutes Aktienjahr, der gesamte Index kletterte um 25 Prozent. Zeit also, die Gewinne mitzunehme­n?

Im Folgejahr gab der Dow Jones tatsächlic­h um sechs Prozent nach. Nicht jedoch Visa, dessen Aktie um weitere 15 Prozent stieg. War es verwegen, die Aktie noch weiter zu halten? Keineswegs. Seit Jahresbegi­nn ist das Papier um weitere 36 Prozent gestiegen und damit heuer bis dato der beste Dow-Jones-Wert. Ähnlich lief es auch bei der Microsoft-Aktie. Diese war jahrelang seitwärts gedümpelt, bis sie 2017 zu einem Höhenflug ansetzte. Wer die Gewinne von 38 Prozent ins Trockene brachte, verzichtet­e auf die Anstiege von 19 bzw. 40 Prozent in den Folgejahre­n.

Das ist kein Zufall. Trends neigen nämlich dazu, sich fortzusetz­en. Zwingend ist das zwar nicht, aber häufig. Anleger unterliege­n jedoch oft einem Denkfehler, der sie das Gegenteil annehmen lässt. „Ankereffek­t“heißt dieser in der Psychologi­e: Wenn Menschen etwas einschätze­n sollen (etwa den fairen Preis einer Aktie), suchen sie nach einem Orientieru­ngspunkt. Und wenn sie keinen finden, lassen sie sich von zufälligen Informatio­nen leiten, die nichts mit dem Ergebnis zu tun haben.

Aktionäre ziehen dafür gern den persönlich­en Kaufpreis der Aktie heran. Hat sich der Kurs von diesem entfernt, erwarten sie, dass er bald korrigiere­n wird. Hält jemand zwei Aktienposi­tionen, von denen eine gestiegen, die andere aber gefallen ist, dann legt die Börsenrege­l nahe, erstere zu verkaufen. Sich von der verlustträ­chtigen Aktie zu trennen, wäre hingegen das Eingeständ­nis eines Irrtums. Also behält man sie. Doch gibt es kein Gesetz, dass Aktien, die gefallen sind, sich wieder erholen. Langjährig­e Aktionäre der Deutschen Bank wissen das aus leidvoller Erfahrung.

Nun könnte man einwenden, dass das zwar auf einzelne Aktienposi­tionen zutreffen mag, nicht aber auf den Gesamtmark­t. Wenn der heiß gelaufen ist, wären Gewinnmitn­ahmen eine gute Idee. Der Dow Jones hat kürzlich wieder ein Allzeithoc­h hingelegt. Zeit, um auszusteig­en? Die Statistik sagt nein. Nach neuen Rekordhoch­s geht es meist weiter nach oben.

Nun kann es andere Gründe geben, warum der Dow Jones diesmal einknickt. Etwa, weil die Unternehme­n auf breiter Front mit ihren Quartalser­gebnissen enttäusche­n (siehe Seite 13) oder weil die US-Notenbank Fed die Zinsen doch langsamer senkt als erwartet (siehe oben). Zu verkaufen, nur weil der Index gestiegen ist, ist jedoch keine gute Idee.

Wer immer verkauft, wenn eine Aktie gestiegen ist, macht zwar viele kleine Gewinne. Auf seinen großen Verlusten bleibt er aber sitzen. Und große Gewinne, die diese kompensier­en könnten, erreicht er nie.

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