Von Gewinnmitnahmen ist schon so mancher arm geworden
Soll man Aktien verkaufen, wenn man stark im Plus ist? Das mag zwar der Selbstbestätigung dienen. Eine gute Strategie ist es aber nicht.
Aktionäre orientieren sich gern am eigenen Kaufpreis, um festzustellen, ob eine Aktie teuer oder billig ist.
Eine alte Börsenweisheit lautet, dass von Gewinnmitnahmen noch keiner arm geworden sei. Wessen Aktien gestiegen sind, der soll demnach nicht zu gierig werden, sondern die Gewinne realisieren. Also seine Schäfchen ins Trockene bringen, bevor die Kurse wieder fallen.
Das mag in einzelnen Fällen durchaus ratsam sein: etwa wenn jemand ein einziges Investment getätigt hat, damit im Plus ist und das Geld jetzt anderweitig benötigt – zum Beispiel für einen Wohnungskauf. Dann wäre es unvernünftig, abzuwarten, ob die Aktien noch weiter steigen.
In den meisten anderen Fällen ist der Rat jedoch so nützlich wie die Börsenregel „Buy Low, Sell High“(Kaufe billig, verkaufe teuer). Das wäre schön, wenn das immer gelänge. Aber wann ist eine Aktie billig oder teuer? Und wann ist eine Aktie so
stark gestiegen, dass man sie verkaufen muss? Nehmen wir den Kreditkartendienstleister Visa. Dessen Aktie ist im Jahr 2017 um 46 Prozent gestiegen. In diesem Jahr war Visa der drittbeste Dow-Jones-Wert. Das Jahr war aber generell ein gutes Aktienjahr, der gesamte Index kletterte um 25 Prozent. Zeit also, die Gewinne mitzunehmen?
Im Folgejahr gab der Dow Jones tatsächlich um sechs Prozent nach. Nicht jedoch Visa, dessen Aktie um weitere 15 Prozent stieg. War es verwegen, die Aktie noch weiter zu halten? Keineswegs. Seit Jahresbeginn ist das Papier um weitere 36 Prozent gestiegen und damit heuer bis dato der beste Dow-Jones-Wert. Ähnlich lief es auch bei der Microsoft-Aktie. Diese war jahrelang seitwärts gedümpelt, bis sie 2017 zu einem Höhenflug ansetzte. Wer die Gewinne von 38 Prozent ins Trockene brachte, verzichtete auf die Anstiege von 19 bzw. 40 Prozent in den Folgejahren.
Das ist kein Zufall. Trends neigen nämlich dazu, sich fortzusetzen. Zwingend ist das zwar nicht, aber häufig. Anleger unterliegen jedoch oft einem Denkfehler, der sie das Gegenteil annehmen lässt. „Ankereffekt“heißt dieser in der Psychologie: Wenn Menschen etwas einschätzen sollen (etwa den fairen Preis einer Aktie), suchen sie nach einem Orientierungspunkt. Und wenn sie keinen finden, lassen sie sich von zufälligen Informationen leiten, die nichts mit dem Ergebnis zu tun haben.
Aktionäre ziehen dafür gern den persönlichen Kaufpreis der Aktie heran. Hat sich der Kurs von diesem entfernt, erwarten sie, dass er bald korrigieren wird. Hält jemand zwei Aktienpositionen, von denen eine gestiegen, die andere aber gefallen ist, dann legt die Börsenregel nahe, erstere zu verkaufen. Sich von der verlustträchtigen Aktie zu trennen, wäre hingegen das Eingeständnis eines Irrtums. Also behält man sie. Doch gibt es kein Gesetz, dass Aktien, die gefallen sind, sich wieder erholen. Langjährige Aktionäre der Deutschen Bank wissen das aus leidvoller Erfahrung.
Nun könnte man einwenden, dass das zwar auf einzelne Aktienpositionen zutreffen mag, nicht aber auf den Gesamtmarkt. Wenn der heiß gelaufen ist, wären Gewinnmitnahmen eine gute Idee. Der Dow Jones hat kürzlich wieder ein Allzeithoch hingelegt. Zeit, um auszusteigen? Die Statistik sagt nein. Nach neuen Rekordhochs geht es meist weiter nach oben.
Nun kann es andere Gründe geben, warum der Dow Jones diesmal einknickt. Etwa, weil die Unternehmen auf breiter Front mit ihren Quartalsergebnissen enttäuschen (siehe Seite 13) oder weil die US-Notenbank Fed die Zinsen doch langsamer senkt als erwartet (siehe oben). Zu verkaufen, nur weil der Index gestiegen ist, ist jedoch keine gute Idee.
Wer immer verkauft, wenn eine Aktie gestiegen ist, macht zwar viele kleine Gewinne. Auf seinen großen Verlusten bleibt er aber sitzen. Und große Gewinne, die diese kompensieren könnten, erreicht er nie.